Amerika entscheidet sich am 5. November nicht nur zwischen einer Kandidatin und einem Kandidaten oder zwischen zwei Parteien. Die Nation wählt, welchen Kurs sie künftig einschlagen will: einen toleranten, weltoffenen unter Kamala Harris oder einen engstirnigen, isolationistischen unter Donald Trump. Und sie bestimmt, ob die USA eine Demokratie oder eine Autokratie sein sollen.
Mit dem Urnengang geht am 5. November ein Präsidentschaftswahlkampf zu Ende, der – vom Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert abgesehen – so aggressiv und gehässig verlaufen ist, wie kaum eine andere politische Auseinandersetzung im Lande je zuvor. Noch ist unbekannt, ob nach Schliessung der Wahllokale innert nützlicher Frist bekannt wird, ob Vizepräsidentin Kamala Harris oder Ex-Präsident Donald Trump gewonnen hat oder ob es noch zu ausgedehnten juristischen Anfechtungen des Wahlresultats oder, wie am 6. Januar 2021, zu gewaltsamen Protesten der republikanischen Anhängerschaft kommen wird.
National bedeutsam ist aber nicht nur, wer am 20. Januar ins Weisse Haus einzieht, sondern auch welche Partei im Abgeordnetenhaus und im Senat die Mehrheit erringt, denn nach wie vor bestimmt der amerikanische Kongress im Sinne der Gewaltenteilung wesentlich über die Politik der Nation mit. Es sei denn, Donald Trump würde im Fall eines Wahlsieges und republikanischer Mehrheiten im Parlament in Washington DC so autokratisch oder gar diktatorisch regieren, wie er das im Wahlkampf gelegentlich angetönt oder gar versprochen hat.
Auf falschem Kurs
Leidtragende wäre auf jeden Fall die amerikanische Bevölkerung, deren Mehrheit unzufrieden ist sowohl mit der Richtung, in der sich die Nation bewegt, als auch mit dem Umstand, dass mit dem 81-jährigen Joe Biden und dem 78-jährigen Donald Trump ursprünglich zwei alte Männer zur Wahl gestanden hatten. An diesem Gemütszustand hat sich mit der Nomination der 59-jährigen, inzwischen 60-jährigen Kamala Harris wenig geändert, auch wenn es ihr gelang, eine deprimierte demokratische Partei zumindest vorübergehend optimistisch zu stimmen.
Auf jeden Fall hat es sich 2024 gerächt, dass es sowohl die Demokraten als auch die Republikaner versäumt haben, rechtzeitig valable Kandidatinnen oder Kandidaten aufzubauen. Joe Biden wurde im Land als zu alt, Donald Trump als zu unberechenbar wahrgenommen. Die Demokraten wagten es nicht, einen sichtlich angeschlagenen Präsidenten früher zum Rücktritt zu bewegen und die Republikaner liessen es zu, dass ihre einst angesehene Partei unter Donald Trump einem Führerkult erlag und unter Umständen noch auf Jahre hinaus darunter leiden wird. In beiden Fällen siegte kurzfristige Opportunität über längerfristige Strategie, seitens der Parteigranden gepaart mit falschem Ehrgeiz und mangelndem Rückgrat.
Weltweiter Reputationsverlust
Opfer der politischen Malaise ist bis heute Amerikas weltweite Reputation, die jüngst durch die kurzsichtige Nahost-Politik Joe Bidens noch stärker gelitten hat und zu deren Vertrauensbasis Donald Trumps Liebeleien mit autokratischen Regimen in Ungarn, Russland oder Nordkorea wenig beitragen haben, von seinen Ausfälligkeiten gegenüber Institutionen wie der Nato oder Ländern wie Mexiko ganz zu schweigen. Kein Wunder, ist Amerikas Ansehen im globalen Süden auf einen Tiefpunkt gesunken, denn Heuchelei und Doppelmoral lassen sich in einer immer besser vernetzten Welt auf Dauer nur schlecht verbergen.
Der Wahlausgang am 5. November dürfte entscheiden, ob sich das Vertrauen in Amerikas Politik erholt oder ob es noch tiefer sinkt. Wobei Amerikas rund 240 Millionen Wählerinnen und Wähler nur relativ wenig dazu beitragen können, dass sich etwas ändert, denn am Ende ist es paradoxerweise nicht die Nation, sondern sind es die Bewohnerinnen und Bewohner weniger Staaten, die über die Siegerin oder den Sieger des Urnengangs bestimmen.
Wichtige «Microcommunities»
Je nach Prognose sind es sieben oder nur vier sogenannte Swing States, die das Zünglein an der Waage bilden: im Fall von vier Staaten sind es Pennsylvania, Wisconsin, North Carolina und Georgia, im Fall von sieben Staaten sind es zusätzlich Michigan, Arizona und North Carolina.
Schliesslich könnte es angesichts des Umstandes, dass Kamala Harris und Donald Trump laut letzten Umfragen praktisch gleichauf liegen, auf relativ wenige Wahlbezirke in einzelnen Swing States ankommen. In Wisconsin zum Beispiel gewann Joe Biden 2020 lediglich mit rund 20’000 Stimmen mehr, die er vor allem in der Hauptstadt Madison, dem Sitz einer grossen Universität mit fast 50’000 Studierenden, erhielt.
In Arizona lag Biden vor vier Jahren mit lediglich 11’000 Stimmen vorne, erneut dank der Stimmen in der Hauptstadt Phoenix mit einer Bevölkerung von 1,66 Millionen. Einem Bericht der «New York Times» zufolge könnten dieses Jahr 21 «microcommunities» in Pennsylvania, Wisconsin, North Carolina und Arizona Amerikas Präsidentenwahl entscheiden. In allen vier Staaten liegen Harris und Trump praktisch gleichauf.
Zünglein an der Waage
Spannend ist die Ausgangslage auch in Michigan, das im diesjährigen «Best States»-Ranking des Magazins «U.S. News & World Report» unter 50 Bundesstaaten auf Platz 42 rangiert. Michigan war zusammen mit Pennsylvania und Wisconsin 2020 Teil der «blue wall», jener an sich demokratischen Schutzmauer, die Donald Trump 2016 zwar vor Hillary Clinton gewann, 2020 aber gegen Joe Biden verlor. «Wird es am Ende auf Michigan ankommen?», fragt die «New York Times».
Der Staat an den Grossen Seen beherbergt mehr als 300’000 Menschen nahöstlicher oder nordafrikanischer Abstammung und hat damit landesweit den grössten Anteil arabischstämmiger Wählerinnen und Wähler. Unter ihnen haben bei der demokratischen Vorwahl im Februar über 100’000 aus Protest gegen Joe Bidens Unterstützung Israels im Gazakrieg «unentschlossen» einlegt. Etliche dürften das am 5. November und nach der Ausweitung des Krieges auf den Libanon erst recht auch im Fall von Kamala Harris tun, indem sie sich der Stimme enthalten oder Jill Stein, die Präsidentschaftskandidatin der Grünen, wählen. Nicht zu vergessen ferner Michigans junge pro-palästinensische Progressive, die Israels Politik und damit den Demokraten zunehmend kritisch gegenüberstehen.
Skeptische Arabischstämmige
Gemäss einer Befragung arabischstämmiger und muslimischer Amerikanerinnen und Amerikaner lehnen 77 Prozent Amerikas Waffenlieferungen an Israel ab. Der Politologe Youssef Chouhoud schätzt, dass Kamala Harris in Michigan 44’000, in Pennsylvania 28’000 und in Georgia 12’000 Stimmen verlieren könnte, falls 40 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner arabischer Herkunft entweder nicht wählen gehen, für eine Drittpartei oder aus Trotz für Donald Trump stimmen. 2020 hat Joe Biden Michigan bei rund 5,45 Millionen abgegebenen Stimmen mit einem Vorsprung von 158’000 Voten vor Donald Trump gewonnen.
Islamwissenschaftler und «Washington Post»-Kolumnist Shadi Hamid nennt mögliche Gründe für die Ablehnung der demokratischen Kandidatin: «Die Verwüstung des Gazastreifens hat für viele Araber und Muslime bestätigt, was sie bisher vielleicht nur vermutet haben: Sie werden nicht als gleichwertig oder gleich würdig angesehen. Das Leben von Arabern und Muslimen ist entbehrlich.»
Die Qual der Wahl
Die Demokraten, schreibt Hamid, seien nun in der unbequemen Lage, ihrer Wählerschaft erklären zu müssen, warum sich ein Krieg ausgeweitet hat, von dem sie hofften, er würde bald enden, und den ein enger Alliierter der USA führt, der Milliarden an amerikanischer Militärhilfe erhält. Kamala Harris habe zwar das Leiden der Palästinenser angesprochen, aber ohne zu erwähnen, wer dafür verantwortlich ist.
Fragt sich, welche Güterabwägung ausser in Sachen Nahostkonflikt Michigans Wählerinnen und Wähler am 5. November noch vornehmen, wenn sie wie alle Amerikanerinnen und Amerikaner in der «wichtigsten Wahl unseres Lebens» entscheiden, ob sie Kamala Harris oder Donald Trump ihre Stimme geben wollen. Ob sie wie die Vizepräsidentin ein landesweites Recht auf Abtreibung unterstützen oder dieses Recht wie Donald Trump den Einzelstaaten überlassen wollen.
Klare Unterschiede
Ob sie wie Kamala Harris Massnahmen und Programme gegen den Klimawandel befürworten oder wie Donald Trump den Klimawandel leugnen und eine uneingeschränkte Förderung fossiler Brennstoffe befürworten. Ob sie beim Thema Kriminalität sich wie die Demokratin trotz früherer Skepsis für mehr Ressourcen der Polizei aussprechen oder wie der Republikaner das Militär in demokratisch regierten Städten im Einsatz sehen wollen.
Im Weitern fragt sich, ob Amerikas Wählerinnen und Wähler wie Kamala Harris die Demokratie des Landes in Gefahr sehen oder ob sie wie Donald Trump an der Verfassung sowie am Wahlsystem zweifeln und keine friedliche Machtübernahme tolerieren. Ob sie in Sachen Wirtschaft wie die Vizepräsidentin die Mittelklasse und Haushalte mit tieferen Einkommen entlasten und weiterhin Infrastrukturprojekte und alternative Energien unterstützt sehen oder wie der Ex-Präsident Steuererleichterungen für Reiche und Unternehmen sowie höhere Zölle befürworten wollen.
Umstrittene Aussenpolitik
Fragt sich ferner, ob Amerikanerinnen und Amerikaner wie Kamala Harris eine aktive Rolle der USA einschliesslich der Mitgliedschaft in der Nato bejahen und die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen oder ob sie wie Donald Trump die Nato kritisieren, weitere Hilfe für die Ukraine in Frage stellen und Amerikas wirtschaftliche Abhängigkeit von China «eliminieren» wollen. Ob sie am Ende bei der Immigration, dem wohl umstrittensten Thema des Wahlkampfs, wie die demokratische Kandidatin ein von Joe Biden vorgeschlagenes, eher moderates Vorgehen gegen illegale Einwanderung für praktikabel halten oder ob sie wie der republikanische Kandidat für die Inhaftierung und Deportation von Millionen Migrantinnen und ohne Niederlassungsbewilligung plädieren.
Wenige Tage vor der Wahl haben Kamala Harris und Donald Trump, vor allem an unentschiedenen Wählerinnen und Wähler gerichtet, ihre besten Argumente wiederholt, weshalb sie ins Weisse Haus einziehen sollten: die Vizepräsidentin vor 75’000 Menschen in der Ellipse, einem Park vor dem Weissen Haus, und Donald Trump vor rund 19’000 Anhängerinnen und Anhängern im Madison Square Garden in New York City. Vor dem Hintergrund leicht steigender Umfragewerte nannte die Vizepräsidentin ihren politischen Gegner einen «kleinen Tyrannen» und einen «Möchte-gern-Diktator».
Optimistische Harris
Trump, sagte Harris, habe ein Jahrzehnt damit verbracht, die amerikanische Bevölkerung zu spalten und gegen einander aufzuwiegeln: «So tickt er. Aber, Amerika, heute sage ich euch: Das ist nicht, wer wir sind, Ich gelobe, eine Präsidentin für alle Amerikanerinnen und Amerikaner zu sein – und das Land immer wichtiger zu nehmen als die Partei oder mich selbst.» Trump dagegen sei jemand, der «instabil, von Rachegelüsten beseelt, von Groll besessen und auf der Suche nach absoluter Macht» sei: «Er denkt nicht daran, euer Leben besser zu machen.»
Falls gewählt, versprach Kamala Harris, würde sie ihr Amt mit einer «to-do»-Liste und nicht mit einer «Liste der Feinde» antreten: «Diese Wahl ist mehr als eine Entscheidung zwischen zwei Parteien und zwei verschiedenen Kandidaten», sagte sie in Washington DC: «Es ist eine Wahl, ob wir ein Land haben, das auf Freiheit für alle Amerikanerinnen und Amerikaner gründet oder ob wir von Chaos und Spaltung regiert werden.»
Pessimistischer Trump
Donald Trump seinerseits bezeichnete in seiner mehr als einstündigen Rede in New York die illegale Einwanderung als «Bedrohung der Demokratie» und porträtierte die Vereinigten Staaten als «besetztes Land», das von «einer Armee von Einwanderergangs» heimgesucht werde, die «eine Kampagne der Gewalt und des Terrors» entfachten. Der Ex-Präsident nannte den 5. November den «Tag der Befreiung» und versprach, die illegale Einwanderung an Amerikas Südgrenze zu stoppen, «das grösste Deportationsprogramm in der Geschichte Amerikas» zu lancieren und die Todesstrafe für jeden Einwanderer zu fordern, der einen amerikanischen Bürger oder Polizisten tötet.
Trump warnte im Madison Square Garden erneut vor dem «inneren Feind» und der «massiven, bösartigen, korrupten, linksradikalen Maschine», welche die demokratische Partei anführe: «Während den vergangenen neun Jahren haben wir die unheimlichsten und korruptesten Mächte der Erde bekämpft. Mit eurer Stimme bei dieser Wahl könnt ihr es ihnen ein- und für allemal zeigen, dass diese Nation nicht ihnen gehört. Diese Nation gehört euch. Sie gehört euch.»
«Ein Fest der Liebe»
Kein Mensch, sagte der republikanische Kandidat später unter der Woche in Florida, dürfe Präsidentin der Vereinigten Staaten werden, der für so viel Zerstörung und Tod im eigenen Land und im Ausland verantwortlich sei. Niemand, sagte er über seinen Auftritt in Manhattan, habe je so viel Liebe erfahren dürfen wie er. Der Event im Madison Square Garden im Beisein seiner Familie und seines engen Alliierten Elon Musk sei ein «Fest der Liebe» gewesen: «Es war die Liebe für unser Land.»
In einem Meinungsbeitrag für die «New York Times» hat Amerikas Wahl-Guru Nate Silver verraten, sein Bauchgefühl spreche für Donald Trump. Das nicht, weil Leute sich unter Umständen scheuten, in Umfragen zuzugeben, dass sie den Ex-Präsidenten wählen wollten, sondern weil die Befrager 2016, 2020 und vielleicht auch 2024 zu wenige Trump-Anhänger erreicht hätten: «Falls Mr. Trump besser abschneidet, als es die Umfragen voraussagen, wäre das ein klares Indiz dafür, dass sich heute nicht mehr eine grössere Zahl von Menschen mit der demokratischen als mit der republikanischen Partei identifizieren.»
Wankelmütige Umfragen
Umgekehrt ist es laut Nate Silver nicht unwahrscheinlich, dass Befragungen den Support für Kamala Harris unterschätzen. Er erinnert aber daran, dass 2016 viele unentschlossene Wählerinnen und Wähler nicht für eine Frau, d. h. für Hillary Clinton stimmten. Trotzdem könnten ihm zufolge Umfragen auch die Zahl jener unterschätzen, die nicht zugeben, für eine Frau, d. h. für Kamala Harris stimmen zu wollen.
Nicht zu vergessen, so Silver, auch der Umstand, dass die Demokraten in den letzten beiden Jahren bei ausserordentlichen Urnengängen und Abstimmungen sowie bei den Zwischenwahlen 2022 gut abgeschnitten hätten. Am Ende gelte es, sich bewusst zu sein, dass Befragungen, allen modernen Techniken zum Trotz, nach wie vor eine relativ inexakte Wissenschaft seien, wie falsche Prognosen bei den Präsidentenwahlen 2016 und 2020 gezeigt haben.
Kein Foto-Finish?
Nate Silvers gewagteste Prognose? «Es ist überraschend wahrscheinlich, dass die Wahl in keinem Foto-Finish resultiert.» Ihm zufolge besteht eine Chance von 60 Prozent, dass entweder Kamala Harris oder Donald Trump in mindestens sechs der sieben Swing States vorne liegt: «Seien Sie nicht überrascht, falls ein relativ klarer Sieg für die Kandidatin oder den Kandidaten in den Karten steht – oder sich grössere Verschiebungen im Vergleich zu 2020 zeigen, als das Bauchgefühl der meisten Leute verrät.»