Wenn mich jemand fragt, ob ich ihm ein kritisches Buch über die Schweiz empfehlen könne, bin ich um eine Antwort nicht verlegen. Gleich fallen mir ein paar Titel von Max Frisch über Adolf Muschg zu Lukas Bärfuss ein. Wenn sich aber jemand nach einem wohlwollenden Buch über unser Land erkundigt, gerate ich in Verlegenheit und muss ziemlich weit in meinen Lese-Erfahrungen zurückblättern, um einen Text zu finden, der sich mir durch seine unvoreingenommene Grundhaltung und literarische Qualität eingeprägt hat. Ein solcher Text ist die Erzählung „Frühling in der Schweiz“ der zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Historikerin Ricarda Huch. Dass die Verfasserin eine Deutsche ist, verwundert nicht, sind uns doch unsere nördlichen Nachbarn oft freundlicher gesinnt als wir uns selbst.
Studentin in Zürich
Ricarda Huch entstammte einer wohlhabenden Braunschweiger Kaufmannsfamilie und zog 1887, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, nach Zürich, um dort Geschichte, Philosophie und Philologie zu studieren. Der Grund für diesen Entschluss war nicht ein wohlerwogener Studienplan, sondern eine anstössige Liebschaft. Die junge Frau hatte sich verliebt, und zwar in ihren Cousin und den Ehemann ihrer Schwester. Das war in den Kreisen, denen Ricarda angehörte, ein handfester Skandal. Ein Auslandaufenthalt schien am besten geeignet, Gras über die fatale Angelegenheit wachsen zu lassen. Zwischen 1887 und 1896 lebte Ricarda Huch in der Schweiz, meist in Zürich. Ihre Erzählung „Frühling in der Schweiz“ verfasste sie 1938, Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Alter von 74 Jahren.
In Zürich bezog Ricarda Huch ein Zimmer bei der freundlichen, aber unglücklich mit einem Gymnasiallehrer verheirateten Frau Wanner an der Gemeindestrasse. Fleissig und intelligent wie sie war, schloss sie die Maturitätsprüfung mit der Bestnote in allen Fächern ab. Dann begann sie ein Studium an der Universität Zürich, die als erste Hochschule im deutschen Sprachraum auch Frauen offenstand. In ihrer Erzählung zeichnet Ricarda Huch anschauliche Porträts ihrer Professoren, die damals noch nicht Angestellte eines Massenbetriebs waren, sondern Persönlichkeiten, die im kleinen Kreis der Studenten ihre Begabungen und charakterlichen Eigenheiten frei entfalten konnten.
Das Fach Geschichte vertraten die konservativen Abkömmlinge alteingesessener Familien, Gerold Meyer von Knonau und Georg von Wyss; dem Demokraten Wilhelm Oechsli, einem „offenen und liebenswerten Menschen“, der Verfassungsgeschichte dozierte, fühlte sich die Studentin besonders verbunden. Zu den eindrücklichsten Professorengestalten, denen sie in Zürich begegnete, gehörte der Geologe Albert Heim. Er war mit Marie Vögtlin verheiratet, der ersten Schweizerin, die in Zürich ein Medizinstudium abschloss. „Er war stolz auf die Fortschritte und die Aufklärung“, schreibt Ricarda Huch, „die anhand der Naturwissenschaften errungen waren, verabscheute das Christentum und glaubte, die Welt würde desto glücklicher werden, je vollständiger die Religion überwunden würde.“ Die Schweizer Professoren seien im Übrigen durchwegs Befürworter des Frauenstudiums gewesen: „Sie wollten den Frauen, die danach verlangten, Raum geben, ihre Fähigkeiten zu beweisen, und als es ihnen gelungen war, liessen sie sie bereitwillig gelten.“
„Unwillkürliche zum Revolutionären“
Die Autorin kommt auch auf die nicht so zahlreichen Frauen zu sprechen, die damals an der Zürcher Universität studierten; viele von ihnen machten in der Folge wissenschaftliche und berufliche Karriere. Die Zoologin Marianne Plehn aus Ostpreussen wurde nach ihrem Studienabschluss in den Naturwissenschaften zu einer der ersten Professorinnen in Deutschland. Die Norwegerin Mathilde Wergeland wanderte nach den USA aus, machte sich einen Namen als Schriftstellerin und lehrte Geschichte an der Universität von Chicago. Die Medizinstudentin Agnes Bluhm wurde zu einer der ersten praktizierenden Ärztinnen in Berlin. Besonders eng war Ricarda Huch mit Maria Baum befreundet, die als Soziologin und Sozialpolitikerin in der Frauenbewegung der Weimarer Republik eine wichtige Rolle spielte. „Ich wusste nicht viel“, schreibt sie, „von sozialistischen Theorien, aber ich war für die Richtung eingenommen, die das Los der Arbeiter, also der ärmsten und rechtlosen Klasse verbessern wollte. Überhaupt hatte ich eine unwillkürliche Neigung zum Revolutionären.“ Zur Gruppe der Russinnen, die damals in Zürich meist Medizin studierten, ging Ricarda Huch freilich auf Distanz und mied ihre uferlosen politischen Diskussionen.
Im Jahre 1891 schloss Ricarda Huch ihr Studium mit einer Dissertation zum Thema „Die Neutralität der Eidgenossenschaft während des Spanischen Erbfolgekrieges“ ab. Da ihre Familie verarmte und die elterlichen Zuwendungen spärlicher flossen, arbeitete die Historikerin in der Zentralbibliothek und unterrichtete ein kleines Pensum Deutsch und Geschichte an der neu gegründeten Höheren Töchterschule. Sie war nun in die Pension der liebenswürdigen Frau Walder an den Untern Zäunen eingetreten, wo noch ein Chemiestudent und zwei junge Klavierschülerinnen wohnten. Vom Direktor der Zentralbibliothek, Hermann Escher, hat sich aus jener Zeit ein Porträt seiner Mitarbeiterin erhalten. „Ebenmässig und stattlich gewachsen“, schreibt Escher, „mit Gesichtszügen, in denen sich schon die künftige Bedeutung aussprach, und in einer Kleidung, die sich harmonisch der ganzen Erscheinung anpasste, lenkte sie sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich.“
In ihrer Freizeit begann Ricarda Huch Gedichte, Novellen, Bühnenstücke zu verfassen und wurde von Joseph Victor Widmann, Redaktor beim Berner „Bund“ und damals einer der einflussreichsten Literaturkritiker, gefördert. Sie las Schweizer Autoren, insbesondere Gotthelf, und ihren Lieblingsschriftsteller Gottfried Keller, dem sie noch, „klein und gebückt, für mich eine grosse verehrte Gestalt“, in den Zürcher Altstadtgassen begegnen konnte. Sie verkehrte im Lesezirkel Hottingen, dem literarischen Mittelpunkt der Stadt.
Reichtum und Bescheidenheit
Im Auftrag von dessen Gründer verfasste sie ein Theaterstück nach dem Märchen vom Dornröschen, das erfolgreich aufgeführt wurde. Auch ihr Interesse für die Geschichtsschreibung blieb wach. Leopold von Ranke, damals der unbestrittene Meister seines Fachs im deutschen Kulturraum, lehnte sie freilich mit Entschiedenheit als zu elitär ab. „Wenn ich mich selbst recht verstehe“, schreibt sie, „war mir seine Welt zu geglättet, zu verbindlich, zu sehr vom Standpunkt der Oberen Zehntausend gesehen, auf einer zu schmalen Basis errichtet, so dass ihr nicht genug warmes Blut zuflösse. Ich glaubte, die wirkliche Welt sei viel wilder, grausamer, böser und gemeiner und doch auch wieder viel schöner.“
Durch den Lesezirkel Hottingen wurde Ricarda Huch mit dem Seidenfabrikanten und Kulturmäzen Hermann Reiff und seiner Frau Emmi, der Tochter eines deutschen Fabrikanten, bekannt. Die Reiffs waren reich, aber ihr Lebensstil war betont einfach. Der aufmerksamen Betrachterin aus Deutschland fiel auf, wie sehr man auf die Bescheidenheit des Lebenswandels achtete. Aus ihrem Reichtum ergab sich für die Familie die gesellschaftliche Verpflichtung, Armen und Bedürftigen zu helfen. „Hermann Reiff“, schreibt Ricarda Huch, „betrieb die Wohltätigkeit fast als Beruf, seine Zeit war zum grossen Teil damit angefüllt ...“ Beruf und Geschäft wurden bei Reiffs strikt getrennt. Im privaten Bereich gab man sich ungezwungen und herzlich, diskutierte über Kunst und Literatur und betrieb Hausmusik.
Ricarda Huchs Erzählung „Ein Frühling in Zürich“ vermittelt ein anschauliches Bild der Zürcher Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war eine Periode tiefgreifenden sozialen Wandels. Die herrschenden Familien des 18. Jahrhunderts wurden durch eine neue bürgerliche Führungsschicht abgelöst. Die Stadtbevölkerung wuchs und industrielle und wirtschaftliche Entwicklung begünstigte die Verbreitung liberaler und demokratischer Ideen. Erziehung und Bildung wurden verbessert und ebneten den Weg zum beruflichen Aufstieg. Fortschritt wurde zum Zauberwort der Epoche. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der Welt verband sich mit der Wertschätzung von Fleiss und disziplinierter Lebensführung.
Gewiss war man noch weit von der Gleichberechtigung der Frau entfernt; aber die Porträts von Frauen, die Ricarda Huch zeichnet, zeigen, welches unbestrittene Ansehen sich das andere Geschlecht in allen Fragen, welche Familie, Haushalt und Kindererziehung betrafen, gesichert hatte. Im Jahre 1869 nahm das Zürcher Volk eine neue Verfassung an, welche die Staatsgewalt ausdrücklich dem Volk übertrug; sie gehörte zu den fortschrittlichsten der damaligen Zeit und ist bis heute gültig geblieben.
Ausflüge und Wanderungen
Menschliche Begegnungen stehen im Vordergrund von „Ein Frühling in Zürich“. Doch es finden sich in der Erzählung auch humorvolle Schilderungen von Ausflügen und Wanderungen in der Umgebung Zürichs und in den Bergen. Man spürt die Lust der Autorin, sich Erfahrungen auszusetzen, die bisher den Männern vorbehalten blieben, so etwa, wenn sie von der nächtlichen Besteigung des Üetlibergs und von der Übernachtung in einer Alphütte auf dem Hasliberg berichtet. Hübsch ist die Schilderung einer Fahrt mit einer Töchterschulklasse durch den eben erst eröffneten Gotthardtunnel. Auch vom Sechseläuten ist die Rede und davon, dass die Zürcher es besonders gut verständen, ihre vaterländischen Feste ohne Pomp und Pathos zu feiern.
Im Rückblick sieht Ricarda Huch ihren Aufenthalt in der Schweiz als wichtigen Schritt in der Ausbildung ihrer Persönlichkeit. „Mit allen Sinnen und Gedanken“, schreibt sie, habe sie sich dem neuen Leben hingegeben. In der Schweiz habe sie das „wahre, unentstellte Deutschland“ gefunden, das ihrer republikanischen Wesensart am besten entsprochen habe. Im Deutschen Reich Bismarcks habe sie sich nicht wohlgefühlt und die allgemeine Begeisterung für die Reichsgründung habe sie nicht geteilt. „Im damaligen Deutschland“, schreibt sie, „konnte man nur entweder Beifall klatschen zu dem, was die jeweiligen Regierungen anordneten, oder schweigen und verärgert beiseite stehen. Die Schweizer konnten mitwirken und gegenwirken nach der eigenen Überzeugung.“
Im Jahre 1896 kehrte Ricarda Huch nach Deutschland zurück. Kurz darauf erschien ihr erster erfolgreicher Roman unter dem Titel „Erinnerungen von Ludolf Ursleu“, der auch Erfahrungen aus der Zürcher Zeit verwertete. Das Buch berichtete, ähnlich wie Thomas Manns wenige Jahre später erschienener Roman „Buddenbrooks“, vom Niedergang einer angesehenen Familie. Während das Schaffen Thomas Manns vom spannungsvollen Gegensatz zwischen Bürger und Künstler bestimmt wird, sind es bei Ricarda Huch die sich widerstrebenden Kräfte von Konservatismus und Radikalismus, die ihr Werk charakterisieren.
Das Buch über die Romantik
Dieses Werk ist breit gefächert und umfasst Lyrik, Bühnenstücke, Romane und historische Werke, vor allem Biografien. Literarisch meisterhaft sind die Charakterstudien historischer Persönlichkeiten wie Wallenstein, Garibaldi oder Bakunin. Am bekanntesten geblieben ist Ricarda Huchs Werk über die deutsche Romantik, das um die Jahrhundertwende in zwei Bänden erschien, nach dem Urteil des Kritikers Marcel Reich-Ranicki „ein fundamentales kulturgeschichtliches Dokument und ein literarisches Kunstwerk von grosser Schönheit“. Bezeichnend für Ricarda Huchs Methode der historischen Darstellung ist, dass sie die Ebene der quellenmässig belegbaren Darstellung verlässt und in den Bereich dichterischer Intuition vorstösst. Diese von Fachhistorikern kritisch beurteilte Art der Geschichtsschreibung ist zuletzt von Golo Mann in seiner monumentalen Wallenstein-Biografie verwirklicht worden.
Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nahm Ricarda Huch verschiedentlich politisch Stellung. Während des Ersten Weltkriegs vertrat sie, ähnlich wie Thomas Mann, eine deutschnationale Haltung; die Weimarer Republik sah sie kritisch. Grossen Wert legte sie auf ihre Unabhängigkeit. „Ich bin nicht marxistisch“, schrieb sie in einem Brief in den dreissiger Jahren, „ich bin nicht kapitalistisch, ich bin nicht nationalsozialistisch, aber ich bin auch nicht schlechtweg demokratisch im heutigen Sinne. Ich bin dafür, dass das Bürgertum den Staat mit ethischer Gesinnung erfüllen sollte.“
Im Jahre 1926 wurde Ricarda Huch als erste Frau in die Sektion für Dichtkunst der Preussischen Akademie der Künste gewählt. Nach Hitlers Machtübernahme weigerte sie sich, eine Loyalitätserklärung zu unterzeichnen. Dem Regime wäre die Gefolgschaft einer prominenten Intellektuellen sehr erwünscht gewesen, und man umwarb sie. Zum 80. Geburtstag sandte ihr der „Führer“ ein Glückwunschtelegramm. Doch die Historikerin blieb unbestechlich. Im April 1933 trat sie aus der Akademie aus und schrieb an den Präsidenten: „Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.“ Das waren eindeutige Worte, geäussert zu einem Zeitpunkt, wo sich die Mehrzahl der Bürger mit dem Regime zu arrangieren suchte. Die Ächtung durch das Regime blieb nicht aus: „Im Deutschland Adolf Hitlers“, schrieb ein Rezensent kurz darauf, „ist für Magierinnen dieser Art heute kein Platz mehr.“
Ricarda Huchs Erzählung „Frühling in der Schweiz“ ist 1938 verfasst worden, zu einem Zeitpunkt, da Deutschland bereits weitgehend gleichgeschaltet war und die Judenverfolgung in den Pogromen der „Reichskristallnacht“ einen ersten Höhepunkt erreichte. Gut möglich, dass sich angesichts dieser Vorgänge die Erinnerung der Verfasserin an die Schweiz verklärte. Möglich auch, dass die Erfahrung ihres Aufenthalts in unserem Land zu der mutigen Entschiedenheit beitrug, mit der die Historikerin ihren Widerstand gegen die Hitler-Diktatur zu äussern wagte.