In Westeuropa ignoriert man die grossen Minderheiten von Russisch Sprechenden in Lettland und Estland weitgehend. Man hat auch den Konflikt zwischen den nach Russland und den nach Westen orientierten Bürgern in der Ukraine erst angesichts der Sezession zur Kenntnis genommen. Wie in der Ukraine provozieren auch die Gegensätze in Lettland und Estland die Einmischung der russischen Medien. Separatismus ist angesichts des steigenden Lebensstandards im Baltikum allerdings kein Thema.
Die Nato besteht in den baltischen Ländern vor allem aus Artikel V, welcher besagt, ein Angriff auf ein Nato-Land werde als Angriff auf das gesamte Verteidigungsbündnis eingestuft. Die Attraktion dieses Artikels ist verständlich für Regionen die zwischen 1944 und 1990 unfreiwillig zur Sowjetunion gehörten. Beim Zerfall der Sowjetunion kam es dann sowohl in Washington als auch im selbständig gewordenen Baltikum zu Missverständnissen. Der damalige amerikanische Aussenminister James Baker, welcher mit Gorbatschow die Wiedervereinigung Deutschlands aushandelte, wurde zu Hause teilweise desavouiert. Viele der von Gorbatschow begeisterten Amerikaner interpretierten dessen Gesprächsbereitschaft als Eingeständnis der sowjetischen Niederlage. Sie fühlten sich als Sieger im Kalten Krieg und neigten nicht zu Zugeständnissen.
Frustrierte Schweizer Mission
Gorbatschow als national engagierter Russe spricht heute von Verrat und kritisiert in Interviews die antirussische Politik. Die amerikanische Zeitschrift „Foreign Affairs“ greift das Thema auf in ihrer neuesten Ausgabe (September/Oktober 2014). John J. Mearsheimer (Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault) und Mary Elise Sarotte (A Broken Promise?) zeigen auf, dass die USA seit Präsident Clinton die Proteste Putins konsequent ignorierten. Man habe Gorbatschow zwar keine schriftlichen Zusicherungen gemacht, aber seine Bedenken seien mit mündlichen Zusagen über das defensive Verhalten der Nato beschwichtigt worden. Wie die Wende in Estland aufgefasst wurde, habe ich dort beim Besuch einer von Pro Helvetia finanzierten Schweizer Delegation erlebt. Diese referierte in Tallinn über die Schweizer Vielsprachigkeit und war schockiert, als der Generalsekretär des estnischen Schriftstellerverbandes die Schweizer Einmischung in Estland zurückwies.
Er reagierte mit der Feststellung: „Wir waren 45 Jahre besetzt. Jetzt sind wir frei und bestimmen unsere Staatssprache“. Die Sprachgesetze in Estland und Lettland kehren die Diskriminierung von gestern um und üben Revanche. Mussten die Esten und Letten bis 1990 Russisch lernen, so wurden die in beiden Ländern über ein Viertel der Bevölkerung ausmachenden Russisch Sprechenden nach der Wende gezwungen, die Landessprache zu erlernen. Wer die Sprachrüfung nicht besteht, erhält kein Bürgerrecht und ist nicht stimmberechtigt. Damit bleibt eine erhebliche Zahl von Russischsprechenden ohne Bürgerrecht, weil sie nicht lernfähig oder nicht lernwillig sind. Der diskriminierende Sprachzwang wird vom Westen ignoriert. Besonders einschneidend sind die neuerdings erlassenen Auflagen, dass russische Gymnasien in allen Fächern auf Estnisch und Lettisch umstellen müssen. Aufgeschlossene russische Einwohner sind ohnehin mehrsprachig und wissen zudem, dass der Lebensstandard im Baltikum besser ist als in Russland. Sie protestieren aber gegen die kurze Frist für die Umstellung, weil russische Gymnasien nicht in allen Fächern die für die Landessprache benötigten Lehrer finden können.
Hinderliches Sprachproblem
Die unnötige Dringlichkeit der sprachlichen Auflagen in Estland und in Lettland frustriert die russischen Minderheiten und ist angesichts der familiären Verbindungen vieler Familien mit Russland ein willkommenes Thema für eine Kampagne über die Diskriminierung von Russen im Ausland. Die Gehässigkeiten der Medien auf beiden Seiten vertiefen die Spaltung zwischen den Sprachgruppen in den beiden baltischen Staaten und bremsen die in den letzten Jahren kräftig gewachsenen Handelsbeziehungen mit Russland. Die baltischen Regierungen und der nach Westeuropa orientierte Teil der Ukraine scheinen den Zerfall der Sowjetunion wie viele Amerikaner als einen Sieg einzustufen, der sie und den Westen zu einer Revanche berechtigt.
Die Regierung der Ukraine erwog die Anerkennung der nahe verwandten russischen Sprache erst, als die Separatisten sich mit russischer Hilfe bereits gewaltsam abgetrennt hatten. In Estland verhält sich die russische Minderheit bisher erstaunlich passiv und verzichtet weitgehend auf eigene Parteien. In Lettland erhielt die in der Hauptstadt Riga dominierende und mehrheitlich von russisch Sprechenden gewählte Partei Saskana bei den Wahlen von 2010 überraschende 26 Prozent der Stimmen und wurde stärkste Partei. Die anderen lettischen Parteien lehnen eine Zusammenarbeit ab, solange Saskana die russische Besetzung von 1944 bis 1989 nicht ausdrücklich verurteilt. Die Demokratie wird durch die Isolierung der grössten Partei und die Kluft zwischen den Sprachgruppen weitgehend blockiert. Dass die Parlamentswahlen vom 4. Oktober diese Probleme überwinden können, ist kaum zu erwarten.