Über zweihundert Jahre musste Saint-Ours auf die erste Retrospektive warten. Das Kunstmuseum Genf, das Musée d’art et d’histoire MAH, ehrt mit einer grossen Ausstellung den in Vergessenheit geratenen Künstler.
Jean-Pierre Saint-Ours hat das künstlerische und gesellschaftliche Leben Genfs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch sein Schaffen und sozialpolitisches Engagement massgebend mitgeprägt. Zwei grosse Schriftsteller und Philosophen, der Genfer Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) und der Franzose Voltaire, lange in Genfs Nachbarschaft, in Ferney (heute Ferney-Voltaire) zuhause, haben mit ihren Schriften und revolutionären Visionen Saint-Ours nachhaltig beeinflusst. Wohl ein Grund mehr, diesen Pionier der Aufklärung und eigenständigen Vertreter des europäischen Klassizismus in Erinnerung zu rufen.
Stationen Genf, Paris, Rom
Jean-Pierre Saint-Ours wurde in Genf geboren. Die kleinadlige Familie stammte aus Frankreich. Während der Reformation fand ein Teil der Familie Zuflucht in der Schweiz. Der Vater des Künstlers war in der Calvinstadt als Zeichenlehrer tätig. Der Sohn zeigte früh eine ausgeprägte künstlerische Begabung. Schon als 13Jähriger schuf er das erste erhaltene Selbstbildnis.
Der junge Künstler hatte eine Vorliebe für antike und religiöse, mythologische und historische Sujets. Quellen der Inspiration waren die Autoren der klassischen Antike, die reformierte Theologie und die Philosophie der Aufklärung. Mit dem allegorischen, symbolischen oder sittlichen Gehalt verlieh er seinen Bildern eine erhebende und universelle Dimension.
Zur Ausbildung schickte der Vater den künstlerisch begabten Sohn nach Paris, wo er sich an der damals berühmten königlichen Kunstakademie für Malerei und Plastik mit den Grundkenntnissen und den Techniken der Malerei vertraut machte. Im Atelier von Joseph-Marie Vien (1716 – 1809) absolvierte er ein glanzvolles Studium. Er machte auch Bekanntschaft mit Jacques-Louis David (1748 – 1825), dem berühmtesten Vertreter der klassizistischen Malerei. Aus dem talentierten Künstler wurde rasch ein angesehener Meister, der in den Pariser Kunstkreisen geschätzt und geehrt war.
Drei Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, an der er sich weder beteiligte noch den Aufständischen besonders nahe stand, verliess Saint-Ours Paris. Der bereits renommierte junge Künstler zog nach Italien und liess sich für ein paar Jahre in Rom nieder. Als Protégé des französischen Botschafters, Kardinal de Bernis, wurde dem protestantischen Künstler aus der Cité Calvin der Aufenthalt in der ewigen Stadt erleichtert. Er fand rasch Aufnahme in den wichtigsten Kunst- und Künstlerkreisen. Der Aufenthalt in Rom und der Besuch der grossen Kulturzentren in Italien wie Florenz, Parma, Bologna usw, hat seinem Schaffen neue Dimensionen verliehen.
Die Ausstellung im MAH
Die Saint-Ours-Spezialistin Anne de Herdt hat im MAH ein grosszügiges Panorama des Werkes gestaltet, das ein packendes Bild der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung im Europa der Aufklärung vermittelt. Erkennbar wird die einzigartige Rolle, die Genf als geistiges und künstlerisches Zentrum im späten 18. Jahrhundert einnahm.
In einem Parcours durch 15 Räume sehen die Besucherinnen und Besucher nicht weniger als 180 Gemälde. Viele davon sind zum ersten Mal zu sehen. Jeder Raum ist einem besonderen Thema und Aspekt des Werkes von Saint-Ours gewidmet. Gleich am Anfang des Rundgangs fasziniert ein Selbstbildnis des 14jährigen Künstlers. Es verrät eine bereits perfekte Kunstfertigkeit und widerspiegelt zugleich auch ein faszinierendes Menschenbild. Das Porträt ist beseelt von einem inneren Licht und zeigt eine ungewöhnliche Künstlerpersönlichkeit.
Die Bilder, zu einem grossen Teil monumentale Formate, überraschen durch die Harmonie und Ordnung der bildnerischen Gestaltung. In der Evokation der antiken Welt findet das Œuvre von Saint-Ours seine Höhepunkte.
Zu den Schlüsselwerken zählt der spektakuläre Katastrophenzyklus „Tremblement de terre“. Im verheerenden Beben, das 1783 Messina auf Sizilien heimsuchte, erblickte Saint-Ours ein Sinnbild der Erschütterungen politischen und sozialen Charakters. welche die damalige Gesellschaft grundlegend veränderten. Not und Schmerz der Menschen haben ihn zutiefst berührt. Der Zyklus erstreckte sich über mehrere Jahre und bildet einen Mittelpunkt des Gesamtwerkes von Saint-Ours. Die Bilder bestechen mit perfekter visueller Architektur, gigantischen Formaten und überwältigender Aussagekraft.
Zurück nach Genf
Auch Genf wurde am Ende des 18. Jahrhunderts von sozialen Unruhen heimgesucht. Die sogenannte „Genfer Revolution“ kündet eine neue Zeit an. Die Geschehnisse veranlassten Saint-Ours im Jahre 1798, Rom zu verlassen und in seine Heimatstadt zurückzukehren, um seinen Mitbürgern in diesen schwierigen Momenten zur Seite zu stehen. Er entfaltete eine rege sozialpolitische und künstlerische Tätigkeit. Saint-Ours gehörte den massgebend politischen Gremien an und war auch Bürgermeister der Gemeinde Les Eaux-Vives.
Die Regierung, der er angehörte, beauftragte ihn, die Republik Genf bildlich darzustellen. Es entstand die „Figure de la République de Genève“. Als Leitfigur diente dem Künstler eine antike Frauengestalt, ausgestattet mit symbolischen Attributen. Ein Fingerzeig auf Jean-Jacques Rousseau fehlt nicht. Die Türme von Saint-Pierre wie der Blick auf den See vervollständigen das Bild. Eine Vorstufe dieses Werkes unter dem Titel „Genève protestante tenant sous son pied la tiare épiscopale“ nahm direkten Bezug auf die Reformation. In der endgültigen Fassung waren die religiösen Aussagen einer laizistischen Zuordnung gewichen.
Das riesige Bild, in der Form einem Kirchenfenster nachgeahmt, sollte im Chor der Kathedrale Saint-Pierre einen bleibenden Platz erhalten. Nach der Besetzung durch die Franzosen wurde es entfernt. In der gegenwärtigen Ausstellung hat es einen Ehrenplatz. Es ist das einzige bedeutende Werk, das heute noch an die von Wirren gezeichnete Epoche erinnert.
„Jean-Pierre Saint-Ours – Un peintre genevois dans l‘Europe des Lumières“. Musée d’art et d’histoire, Rue Charles-Galland 2, Genf. Bis 31. Dezember 2015