Vor 400 bis 700 Jahren erlebte Europa jene denkwürdige, von Italien ausgehende kulturelle Bewegung; Renaissance nennen wir seit dem 19. Jahrhundert diese grossartige Epoche zwischen Mittelalter und Neuzeit. „Wiedergeburt“, weil gleichzeitig eine Rückbesinnung auf Werte der Antike erfolgte. Und heute? Gibt es Analogien? Soll man überhaupt Vergleiche anstellen?
Damals – eine Eruption des Neuen
Bernd Roeck, Renaissance-Spezialist und Professor für Geschichte an der Universität Zürich, beschreibt die Geschichte der Renaissance auch als Explosion des Neuen, Urknall der Ideen und eigentlicher Diskursrevolution. „Das Neue verbreitete sich, beschleunigt durch Handel, vereinfacht durch die Elitesprache Latein.“ Die Erfindung des Buchdrucks, neues Wissen, realistische Malerei: „Europa katapultierte sich Richtung Fortschritt.“
Sucht man etwas tiefer, ist es spannend, einige Merkmale jener prägenden Epoche herauszugreifen, um sie anschliessend den vergleichbaren „Eruptionen“ des Heute gegenüberzustellen. Da wären zum Beispiel: Diskursrevolution, Globalisierung, Sprache, Erfindungen, Kunst als Treiber und Beispiele einer eigentlichen, friedlichen Revolution. Alles konnte sich nur in einem entsprechenden „Möglichkeitsraum“ überhaupt entfalten. Gemeint ist damit, dass die Aneignung völlig neuer Sichtweisen auf die Welt und das Zusammentreffen von innovativen Gedankenströmen einen raschen Wandel provozieren, damals. So verloren zum Beispiel der Papst und die Kirche gewaltig an Macht.
Heute – keine Rückbesinnung auf frühere Werte
Es hätte nicht den „Trump-l‘oeil“ und den Brexit gebraucht, um zu realisieren, dass die Täuschung des Volkes und der Wiederaufstieg skrupelloser Demagogen, dass alle diese Anzeichen die Entstehung eines neuen, explosiven „Möglichkeitsraums“ signalisieren. Es ist gleichsam diese Bühne, auf der sich vor unseren Augen vieles rasend schnell ändert, sich eine „Renaissance reloaded“ ankündigt. Die Vorzeichen sind allerdings nicht vergleichbar: Keine Rückbesinnung auf Werte früherer Hochepochen, sondern hemmungslose Abwendung von alten, bewährten, demokratischen Mitteln. Darum kann es nicht schaden, wenn besonnene Menschen rechtzeitig Gegensteuer geben. Und deshalb die Umbenennung von „Renaissance reloaded“ in „Revigilance“? Wir sollten wieder wachsamer werden – „Die Schlafwandler“, jenes nachdenkliche Buch des Historikers Christopher Clark jedenfalls ist eindrücklich und lesenswert.
Wenn die Renaissance eine eigentliche, mehr oder weniger friedliche Revolution einleitete, ist der Ausgang der aktuellen, vorsichtig ausgedrückt, ungewiss.
Falscher Mythos vernebelt die Sicht
Ist zurzeit wirklich ein eher ungemütlicher „Möglichkeitsraum“ im Entstehen begriffen, getrieben durch völlig neue Ansichten, umwälzende Innovationen und schnellen Wandel? In Anlehnung an das oben Gesagte, wer verliert an Macht? Nimmt man unsere westlichen Demokratien als Basis, lautet die Antwort: Es sind die Regierungen, „Die da oben“, der Machtzirkel der politischen Eliten. Deren Legitimation und Qualifikation für eine schwierige Aufgabe wird gezielt, maliziös und in oft unqualifizierter Weise demontiert durch Propagandisten nationaler Strömungen.
Warum ungemütlich? Diesen Kreisen, Bewegungen oder Parteien geht es nicht – wie im Italien zur Zeit der Renaissance – um Aufbruch und Wissensdurst, die eine einmalige Zukunftsgestaltung signalisierten. Das Gegenteil ist der Fall: Das Rad der Geschichte soll zurückgedreht werden, das „Es-war-früher-alles-besser“ als falscher Mythos vernebelt die klare Sicht. Die Absicht der Anführer dieser unzimperlichen Agitation, seien es populistische Parteigrössen, nationalistische Grossmäuler oder demokratieverachtende Autokraten, ist überall dieselbe: persönlicher Machtgewinn.
Prägende Erscheinungen unserer Zeit
In Anlehnung an obige Definition der Renaissance könnte man das für die Gegenwart so formulieren: Das Neue verbreitet sich, beschleunigt durch die Globalisierung, vereinfacht durch die Weltsprache Englisch. Die Erfindung des Internets, neues Wissen der Forschung, abstrakte Malerei: Die Welt katapultiert sich Richtung Fortschritt.
Doch nicht alles, was neu ist, ist heute gleichzeitig Fortschritt. Beginnen wir bei der Diskursrevolution, den Begriff „Diskurs“ im heutigen bildungssprachlichen Sinne verwendet. War sie damals eine Folge Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks, „the book and the printing press“, so ist heute zweifellos von „Social Media-Revolution“ zu sprechen. Facebook und Twitter verändern Kommunikation, Diskussion, Wahrheitsgehalt und Debattenstil. Sie entscheiden sogar über Präsidentenwahlen. „Fakes statt Facts“, eine neue Dimension der postfaktischen Lügenwelt, entlarvt Absender und Empfänger.
Die Globalisierung des 21. Jahrhunderts umfasst diesmal die ganze Welt. Die Auswirkungen sind deshalb ungleich grösser und komplizierter. „Nationalisierung“ im Sinne eines übersteigerten Nationalbewusstseins knabbert an den Errungenschaften der Globalisierung. Dies allerdings ist eine Rückbesinnung auf alte Werte, jedoch mit geänderten Vorzeichen. Engstirniger Nationalismus ist die Folge des bewussten Schürens der allgemeinen Empörung gegen etwas, zum Beispiel den Vertrag von Versailles oder jenen von Brüssel. Was werden die Folgen dieser letzteren Entwicklung sein?
Damals Latein, heute Englisch
Zum Wissensaustausch gehört, so banal das tönt, dass man die gleiche Sprache spricht: damals die Sprache der Eliten – Latein. Man verstand sich und lebte, als Beispiel, in einer überschaubaren Stadt, in unserem Fall Florenz, wo unter anderen Leonardo da Vinci und Dante Alighieri wirkten. Dass wir über jene Zeit so gut orientiert sind, verdanken wir auch dem Staatsphilosophen, Chronisten und Autor Niccolò Machiavelli (1469–1527), heute hauptsächlich bekannt durch „Il Principe“, seiner analytischen Definition von Macht.
Die gleiche Sprache sprechen – im 21. Jahrhundert spricht die Welt englisch. Die Elite, die den Wandel anstösst, trifft sich im Silicon Valley, dem Zentrum der IT- und High-Tech-Branche, wo sich Dutzende von „Erfindern“ die Hand geben und austauschen.
Nicht geändert hat sich die Aussagekraft Machiavellis tiefsinnigen, oft bitterbösen Statements: etwa: „Die Menschen sind so einfältig und hängen so sehr vom Eindruck des Augenblicks ab, dass einer, der sie täuschen will, stets jemanden findet, der sich täuschen lässt.“
Erfindungen als Veränderungstreiber
Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert war eine der wichtigsten Voraussetzungen des raschen Wandels. Damit verbreiteten sich neue Schriften, auch „ketzerische“, flächendeckend und nicht zur Freude aller. Fortan war Wissen nicht mehr eine exklusive Domäne für Kirche, Klöster und Herrscher. Somit gehört die Geschichte des „modernen“ Papierdrucks, als das teure, handbeschriftete Pergament abgelöst wurde durch die ersten modernen Papierdruckereien, zum Beispiel in Spanien, zu den fundamentalsten Voraussetzungen des damaligen, spektakulären Wissensschubs. Erst dieses viel billigere Material liess es überhaupt zu, dass nun tausende von Buchexemplaren gedruckt werden konnten.
Weniger bekannt ist, dass eine weitere Voraussetzung für diese Entwicklung ohne die Erfindung der Brille nicht denkbar gewesen wäre. Ende des 13. Jahrhunderts lösten die ersten Exemplare von „modernen“ Brillen ihre Vorläufer ab: erfunden in der Toskana. Weite Schichten des bürgerlichen Mittelstandes durften und konnten sich für Neues interessieren und es weiter verbreiten.
Was passiert denn heute? Der Digitaldruck bezeichnet eine Gruppe von Druckverfahren, bei denen das Druckbild direkt von einem Computer in eine Druckmaschine übertragen wird, ohne dass eine statische Druckform benutzt wird. Nicht mehr auf Papier, sondern am Bildschirm. Und, um das Trio zu vervollständigen: natürlich wird auch die Brille neu erfunden. Die Virtual-Reality-Brille ist kein Zukunftstraum mehr. Es braucht dazu noch einen Computer oder ein Smartphone, um die interaktive Umgebung zu schaffen, fast wie die Wirklichkeit …
Die neuen Sichtweisen der Malerei
Grosse Namen wie Brunelleschi, Giotto, Raffael, Leonardo da Vinci stehen unverrückbar für jenen Erneuerungsschub, der sich in der Malerei zu Beginn der Renaissance vollzog: Mit dem Einbezug der Perspektive entwickelten sich fortan die berühmten Bilder mit Tiefenwirkung und suggerierter Dreidimensionalität. Das Abbilden von Landschaften, Leuten, alltäglichen oder prunkvollen Situationen galt als sujetprägend und als Handwerk.
Der Vergleich zur Gegenwart: Namen wie Picasso oder Rothko haben seit dem 20. Jahrhundert auch die Malerei in die Zukunft vorangetrieben. Das Abbilden von Situationen wird abgelöst durch Ungegenständliches, Abstract Painting beschreibt nicht mehr Situationen, sondern übermittelt Gefühle, Botschaften und lässt freie Interpretation zu. Längst gilt Malerei nicht mehr als Handwerk.
Dieser sehr persönlich geprägte Vergleich zweier Zeitepochen zeigt: Die Folgen der heutigen Umwälzungen sind gigantisch, erst später wird darüber zu befinden sein, ob sie gar gleichbedeutend wie die der Renaissance sein werden. Gilt jene heute noch als eigentliches Wunder, das Europas Entwicklung gegenüber allen anderen Kontinenten deutlich beschleunigte, kann man sich heute nur wundern über die Konsequenzen der gegenwärtigen Umbrüche.