Ich habe die Anekdote – aus Peter Brooks Autobiografie – schon öfter erzählt: Der berühmte Theater-Regisseur arbeitet mit seiner Truppe in einer Waldlichtung in Südindien an einer szenischen Darstellung des Mahabharata (sie wurde später auch in Zürich aufgeführt). Als Orientierungspunkt häufen die Schauspieler herumliegende Äste und Gestrüpp zu einem Holzhaufen in der Mitte der Lichtung.
Bei einer Pause sitzen sie alle im Schatten der Bäume, als sie eine alte Frau erblicken, die mit einem Bündel Brennholz über die Lichtung schlurft. Plötzlich sieht sie den Haufen. Sie entledigt sich ihrer Bürde, verneigt sich und betet davor; dann geht sie ihres Weges. Das Auftauchen eines noch nie gesehenen Objekts genügte, schrieb Brook sinngemäss, um bei der Frau eine Vision des Überirdischen auszulösen und die profane Waldlichtung in einen sakralen Raum zu verwandeln.
Ein von Religiosität durchdrungenes Land?
Seit den ersten schriftlichen Zeugnissen von Indien-Reisenden bis zu den Reisebücher-Clichés unserer Tage erscheint Indien als ein von Religiosität durchdrungenes Land. Mit dem Hinduismus und Buddhismus ist es das Ursprungsland von zwei der vier grossen Weltreligionen. Auch die anderen zwei – Islam und Christentum – haben in Indien Fuss gefasst, das Christentum seit dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
Doch wie hat sich die Moderne mit ihrer Säkularisierung auf dieses Heilige Land ausgewirkt? Wir wissen vom Religionsforscher Ronald Inglehart, dass zwischen 2007 und 2019 in 43 von 49 Ländern religiöse Observanz deutlich abgenommen hat. Auch in Indien hatte der Prozess der Säkularisierung zusammen mit dem Siegeszug der Moderne bereits unter der englischen Kolonialherrschaft begonnen. Er verstärkte sich nach der Unabhängigkeit mit der Verabschiedung einer säkularen Verfassung.
Verehrung von „Mutter Indien“
Selbst die HIndutva-Bewegung der heute regierenden Volkspartei BJP hat keine tiefere religiöse Ausprägung. Sie zielt auf die ethnische Identität der Hindu-Bevölkerungsmehrheit, in der die Religionszugehörigkeit nur eines von mehreren Definitionsmerkmalen ist. Einige Hindutva-Ideologen sagen gar, dass auch Christen und Muslime als „Hindus“ zählen dürfen, solange sie sich zu Sprache, Territorium und der Verehrung von „Mutter Indien“ bekennen; und die Buddhisten, Sikhs und Jains vereinnahmen sie ohnehin als hinduistische Sekten.
Nun haben wir eine erste Antwort auf die Frage, wie ausgeprägt die religiöse Identität des Inders – ob Hindu, Muslim oder Christ – heute noch ist. Das „Pew Research Center“, ein führendes amerikanisches Institut für Meinungsforschung, hat soeben eine grosse Umfrage mit knapp 30’000 Befragten (und in 17 Sprachen) durchgeführt. Alle Bevölkerungssegmente waren repräsentativ vertreten, aufgeschlüsselt nach Religion, Geschlecht, Alter, Klasse, Kaste und Region. Lediglich der muslimische Teil von Kaschmir musste ausgelassen werden, da der politische Ausnahmezustand dort keine systematische Befragung zuliess.
Rolle der Religion: sehr hoch
Soeben ist das Resultat unter dem Titel „Religion in India: Tolerance and Segregation“ veröffentlicht worden. Und es zeigt, was bereits Inglehart bemerkte: Eine grosse Mehrheit der Inder (84%) in jeder der sechs berücksichtigten Religionen – Hindus, Muslime, Christen, Buddhisten, Jains, Sikhs – beurteilt die Rolle der Religion in ihrem Leben als „sehr hoch“.
Damit geht die überraschend hohe Zahl (91%) jener einher, die die freie Religionsausübung als zentral erachten. Dieses Bekenntnis zur Diversität steht im Einklang mit der Überzeugung, von 82% der Befragten vertreten, dass religiöse Toleranz ein zentraler Bestandteil der indischen Nation ist („to be truly Indian“).
Keine Muslime und Christen als Nachbarn
Aber Indien wäre nicht Indien, wenn es mit dieser simplen und ehrenvollen Gleichung getan wäre. Selbst für das Land der Sadhus und Ashrams gilt offenbar, dass ein Religionsbekenntnis, selbst ein flammendes, wenig zu tun haben muss mit Spiritualität. Eine klare Mehrheit (66% der Hindus, 67% der Muslime) fand, dass sie wenig gemeinsam hat mit anderen Religionsgruppen. „Indians simultaneously express enthusiasm for religious tolerance and a consistent preference for keeping their communities in segregated spheres.“
Mehr als ein Drittel der Hindus wollen keine Muslime als Nachbarn; bei den Jains sind es sogar 54 Prozent, und fast ebenso gross ist die Ablehnung christlicher Nachbarn. Noch stärker ist die Ablehnung über interreligiöse Heiraten. 60 Prozent der Hindus sind dagegen, und bei den Muslimen sind es noch mehr. Die Heiratsstatistik in der letzten indischen Volkszählung spricht eine deutliche Sprache: In 99% der Ehen sind beide Partner Hindus, bei den Muslimen sind es 98%, bei den Christen und Buddhisten sind die Zahlen ähnlich hoch.
Systemische Kasten-Diskriminierung
Ähnlich verwirrend sind die Ansichten über religiöse Diskriminierung. Trotz dem breit abgestützten Bekenntnis zur religiösen Toleranz sagen zwei Drittel der Befragten, religiöse Diskriminierung sei ein „grosses Problem“. Allerdings sagen „nur“ 17% der Hindus, Muslime würden diskriminiert. Wenn schon, sind es Hindus selber (20%), die sich stärker diskriminiert fühlen.
Ein Grund dafür mag die Aufspaltung der hinduistischen Kastengesellschaft sein. Dalits sind offener für interreligiöse Heirat, ebenso wie für Bekehrungen in eine andere Religion. Und obwohl sie Hindus sind, sind sie Opfer von (Kasten-)Diskriminierung. Die Umfrage lässt vermuten, dass die systemische Kasten-Diskriminierung stärker ist als die religiöse Ausgrenzung. Letztere ist ein Politikum – Kastendiskriminierung dagegen viel weniger, weil sie weitgehend verschwiegen oder weil den „Tätern“ gar nicht bewusst wird, dass sie diese praktizieren.
Christliche und muslimische Kasten
Die Umfrage macht zudem deutlich, dass Kastendenken und -strukturen nicht nur unter den Hindus, sondern bei allen vertretenen Religionsgruppen vorhanden sind. Es gibt Kasten sowohl bei den Christen wie bei den Muslimen, Jains und Sikhs, und die Formen der ungleichen Behandlung gleichen jenen der Hindus. Unter den Muslimen ist das Heiratsverbot zwischen „tiefen“ und „hohen“ Kasten noch höher als bei den Hindus (70% und 63%).
Lediglich bei den Buddhisten ist diese Form sozialer Dissonanz weniger ausgeprägt. Ein Grund dafür mag sein, dass der indische Buddhismus stark von Dalits geprägt ist, nachdem der grosse Dalit-Führer B. R. Ambedkar daraus eine Art Befreiungstheologie geschaffen hatte.
Kein Problem mit einer autoritären Führung
Wie stark Religion immer mehr zu einem ethnischen Markierungspunkt statt zu einem spirituellen geworden ist, zeigen die Fragen, welche die Verbindung zwischen Religion und Politik ansprechen. Alle Gruppen verzeichnen grosse Ja-Mehrheiten (um 80%), wenn es um die Akzeptanz eines robusten Nationalismus geht, ausgedrückt in Symbolen wie Flagge und Nationalhymne, oder einer starken Armee. Selbst bei der muslimischen Minderheit ist keine Ambivalenz im Bekenntnis zur indischen Nation festzustellen. 95 Prozent sagen, sie seien stolz, Inder zu sein.
Die Hälfte der Befragten hat auch kein Problem mit einer autoritären politischen Führung. Und selbst die heikle Frage der Wünschbarkeit religiöser Themen im politischen Diskurs zeigt, wie stark sich Religiosität selbst in Indien entleert hat. Zwei Drittel finden nichts dabei!
Ideologie der Toleranz, segmentierte Toleranz
Damit wird auch rasch klar, warum Narendra Modi ein so erfolgreicher Politiker ist. Fast zwei Drittel der befragten Hindus haben bei den letzten Wahlen für Modis BJP gestimmt (allerdings mit einem starken Nord/Süd-Gefälle. 59% von ihnen meinen, dass nur ein Hindu ein „richtiger“ Inder ist).
In einer kurzen Analyse der PEW-Umfrage ging der Politikwissenschaftler Pratap B. Mehta im „Indian Express“ vom 2.Juli auf die Widersprüche ein, die sie aufzeigen. Indien folge einer „Ideologie der Toleranz, praktiziert aber eine segmentierte Toleranz. Jede Religionsgemeinschaft hat ihren gerechtfertigten Platz, solange sie auch auf ihrem Platz bleibt“.
Segmented in its toleration
Dasselbe gelte für die Frage der „Diskriminierung“. Sie mag mit 20% relativ tief erscheinen. Aber „in segmentierten Gesellschaften ist Diskriminierung gar keine Kategorie, weil Ausschluss als eine akzeptierte Norm gilt …“. Sarkastisch fügte der Kommentator hinzu: „Wir haben es noch nicht einmal bis zur Diskriminierung geschafft.“
Mehtas Schlussfolgerung stimmt denn auch nicht optimistisch, trotz dem Bekenntnis zur Religion und den vielen positiven Wortmeldungen der Befragten zu religiöser Toleranz: „The overall picture of India in the survey is of a religious country, ideologically committed to religious diversity, but exclusionary and segmented in its toleration, with less support for individual freedom, increasingly committed to Hindutva benchmarks of national identity, and tempted by authoritarianism.“
Wird dieser Trend zunehmen? Mehtas Antwort ist eine ironische Floskel, und damit nicht weniger beunruhigend: „God and Nation will decide.“