Drei Tage vor dem Anschlag in New York und Washington vom 11. September 2001 sorgte Bin Laden für die Ermordung von Ahmed Schah Masud, des letzten verbliebenen Gegners der Taliban in Afghanistan. Dies geschah durch zwei Selbstmordanschläge von Tunesiern, die sich als Journalisten ausgaben und in ihrer Kamera eine Bombe versteckt hatten. Ahmed Schah Masud war eine hochverehrte Heldenfigur des Krieges gegen die Russen gewesen. Seine Ermordung war in erster Linie eine Dienstleistung Bin Ladens zu Gunsten von Mullah Omar, dessen gefährlichster verbliebener afghanischer Gegner auf diesem Weg beseitigt wurde.
Dem Anschlag in New York und Washington, für den Bin Laden zuerst die Verantwortung ablehnte, sie dann aber übernahm, folgte der Krieg der Amerikaner gegen die Taliban und die von ihnen geschützte Basis Bin Ladens in Afghanistan. Bin Laden konnte über die pakistanische Grenze entfliehen und nutzte später den Schutz des pakistanischen Geheimdienstes ISI, so dass er in der Garnisonsstadt Abbotabad, etwa hundert Kilometer von Islamabad entfernt, eine sichere Bleibe fand.
Dort wurde er erst im Mai 2011 durch amerikanische Sondertruppen erschossen. Die Berichte darüber, was genau stattfand, sind widersprüchlich. Die Geheimdienste Pakistans und Amerikas sorgen dafür, dass bis jetzt keine wirkliche Klarheit über die Hintergründe und Einzelheiten besteht.
Bin Laden hatte schon vor dem Grossanschlag in New York erklärt, es sei sein Ziel, die Amerikaner dazu zu verleiten, Krieg gegen „den Islam“ auf „unserem eigenen Territorium“ zu führen. Der Zweck dabei sei, alle Muslime voll gegen die fremden Angreifer zu mobilisieren. Die Bush-Regierung in den USA tappte genau in die ihr gestellte Falle und erklärte zuerst „dem Islam“, später korrigiert in: „dem Terrorismus“, den Krieg, sowohl in Afghanistan wie auch, wenig später und völlig unnötigerweise, im Irak. Alles weitere Wachstum der gewalttätigen Islamisten seither ist auf diese undurchdachte, blinde Wutreaktion und Überheblichkeit der Bush-Regierung zurückzuführen.
Dauerkriegsschauplatz Irak
Der Krieg gegen den Irak wurde angefangen, noch bevor in Afghanistan ein abgesicherter Sieg zustande gekommen war. Dies bot den radikalen gewaltbereiten Islamisten die Möglichkeit, auf beiden Schachbrettern abwechselnd oder gleichzeitig zu spielen. Al-Kaida im Irak wurde gestärkt durch den kapitalen Fehler der amerikanischen Bremer-Verwaltung im neu eroberten Irak, der darin bestand, sowohl die Armee Saddams wie auch die Staatspartei aufzulösen und dadurch ihre Funktionäre, Soldaten und Offiziere brotlos auf die Strasse zu stellen.
Saddam Hussein hatte schon vor der Invasion versteckte Waffenlager vorbereitet. Er hatte auch in seinen letzten Jahren in Erwartung einer amerikanischen Invasion eine Wende zu einer „islamischen“ Politik vollzogen und mit den irakischen Stämmen Kontakt gesucht. Sein Vizepräsident, Ezzat Ibrahim ad-Duri, war mit den beiden Anliegen beauftragt, und ad-Duri hat Saddam Hussein lange Jahre im Verborgenen überlebt. Ob er heute noch lebt, ist ungewiss.
Ad-Duri fasste die ehemaligen Baathisten, die Widerstand leisten wollten, zusammen und gründete das „Heer der Naqschabandi-Männer“ als Widerstandsgruppe in Nordirak Die Naqschabandi sind ein sehr orthodoxer Sufi-Orden. Ad-Duri war langjähriges Mitglied. Die Kämpfer dieses Ordens arbeiteten mit den radikalen Islamisten zusammen und bildeten eine Brücke zwischen ihnen und den ehemaligen Offizieren Saddam Husseins und anderen Mitgliedern der nun verbotenen Baath-Partei. Ihre Kenntnis der Waffenverstecke war wichtig für den anti-amerikanischen Widerstand. Wichtig war auch ihre Expertise in Sprengfallen (IED für „improvised explosive devices“), der Waffe, die den Amerikanern die meisten Verluste zufügte.
Zarqawis Bürgerkriegsstrategie
Partner dieser Überreste des Saddam-Regimes im Widerstand wurden die radikalen Islamisten aus dem Umfeld von al-Kaida. Ihr berühmtester Chef, Abu Musab az-Zarqawi, stammte aus Zarqa in Jordanien. Er war ursprünglich als Kleinkrimineller in Jordanien ins Gefängnis gekommen, machte eine Bekehrung zum Islam durch, reiste 1989 nach Afghanistan, wo der Dschihad gerade zu Ende gegangen war, lernte dort Azzam kennen und Muhammed al-Maqdisi. Er wurde Schüler und Gefolgsmann al-Maqdisis. Dieser ist ursprünglich Palästinenser aus Nablus, seine Familie wanderte aus nach Kuweit.
Maqdisi studierte in Mosul und gehört heute zu den einflussreichen Theoretikern des radikalen Dschihads. Als Palästinenser konnte er nach dem Kuwaitkrieg nicht mehr nach Kuwait zurückkehren. Die Palästinenser wurden damals in Massen aus Kuwait ausgewiesen. Er lebte in Jordanien und gründete dort eine Aktivistengruppe, die sich auf Dschihad vorbereitete. Zarqawi gehörte dazu.
Die jordanische Sicherheit deckte Waffenverstecke der Gruppe auf und al-Maqdisi kam zusammen mit Zarqawi und anderen ins Gefängnis. Sie verbrachten nach Verhören und Folterungen drei Jahre gemeinsam in einer Grosszelle, in der alle Islamisten zusammen untergebracht waren. Al-Maqdisi überliess es Zarqawi, das „islamische“ Zusammenleben der Gruppe in ihrer Zelle in praktischer Hinsicht zu regeln, was dieser mit grosser Strenge durchführte. Al-Maqdisi selbst zog es vor, sich seinen Studien zu widmen. Die Gruppe kam 1999 frei dank einer allgemeinen Amnestie des jordanischen Königs.
Da er zu Hause weiter unter Beobachtung durch die jordanischen Sicherheitsdienste stand, zog Zarqawi erneut nach Afghanistan. Dort lernte er Bin Laden kennen, blieb aber unabhängig von ihm. Er leitete ein Ausbildungslager im Westen Afghanistans, nahe bei Herat. Wer es finanzierte, ist bis heute nicht klar. Etwa hundert Syrer und Jordanier sollen unter Zerqawis Befehl in diesem Lager gelebt haben.
Nach dem Anschlag von New York und Washington, als die Amerikaner Krieg gegen die Taliban in Afghanistan führten, setzte Zarqawi sich mit seinen Gefolgsleuten nach Iran ab und errichtete ein neues Lager für seine Gruppe an der iranisch-irakischen Grenze. Nach der Besetzung des Iraks durch die USA begann er seinen Dschihad in Nordirak und suchte Zusammenarbeit mit früheren Offizieren und Geheimdienstleuten Saddam Husseins, die in der sunnitischen Stadt Mosul und in der umliegenden Provinz „Ninava“ Unterschlupf gefunden hatten.
Wieweit sich diese bisher säkularen Politiker und Offiziere wirklich einem gewaltbereiten Islam zuwandten oder inwieweit sie dies vorgaben in der Hoffnung, erneut Macht zu erlangen, muss offen bleiben. Mischformen zwischen diesen Alternativen sind auch denkbar.
Zarqawi entwickelte eine eigene Strategie für den Krieg im Irak, die sich gegen die Schiiten richtete. Sein Lehrer Maqdisi hasste die Schiiten und sah sie als Abtrünnige vom wahren Islam. Doch Schiiten zu ermorden war auch eine politisch nützliche Methode für Zarqawi, die darauf ausging, Streit und Krieg zwischen den irakischen Schiiten und Sunniten heraufzubeschwören und dadurch das Land für die amerikanischen Besetzer unregierbar zu machen. Zarqawi setzte gezielt Bomben gegen schiitisch bewohnte Quartiere ein, gegen deren Märkte, deren Moscheen, gegen schiitische Pilger, welche in Scharen die heiligen Städte des Schiismus im Irak besuchten. Der wichtigste Ayatollah der irakischen Schiiten, Ali al-Sistani, rief seine Gemeinde immer wieder dazu auf, diese Aktionen als Provokationen zu erkennen und sie nicht durch Gegenschläge zu beantworten.
Sunniten gegen Schiiten im inneren Bürgerkrieg
Al-Sistani wusste, wenn die Schiiten sich nicht provozieren liessen und wenn es zu Abstimmungen im Irak käme, würde seine Gemeinschaft, die Mehrheitsgemeinschaft im Irak, die Wahlen gewinnen und auf diesem Weg eine Machtstellung erlangen, die sie in der Vergangenheit nie erreichen konnte. Vor dem amerikanischen Eingriff und seit der Osmanischen Zeit war die Macht im Zweistromland stets in den Händen von Sunniten gelegen. Dies war von Gewicht für grosse Teile der Bevölkerung, weil die Machthaber es sich nicht nehmen liessen, ihre Religionsgenossen zu bevorzugen, wenn es um die Besetzung von Staatsstellen und um die Vergabe von staatlichen Aufträgen ging.
Seit 2005 liess Zarqawi Bomben in Bagdad hochgehen. Oftmals waren es Selbstmordtäter, die darauf ausgingen möglichst viele Schiiten mit sich in den Tod zu reissen. Die schiitische Gemeinschaft hielt durch, ohne sich provozieren zu lassen – bis zum Jahr 2006. Trotz vieler Todesopfer vermied sie es, ihrerseits Bomben gegen die sunnitischen Wohnquartiere, Moscheen und Märkte einzusetzen. Bagdad war damals eine aus beiden Religionszweigen ungefähr paritätisch gemischte Stadt, und beide Gemeinschaften hatten in den Jahrzehnten zuvor friedlich zusammengelebt.
Doch am 22. Februar 2006 wurde die Kuppel der Askari Moschee in Samarra in die Luft gesprengt. Fünf Personen in irakischen Polizeiuniformen brachen des Nachts dort ein, fesselten die Wächter, legten Sprengladungen an verschiedenen Stellen und zündeten diese am frühen Morgen. Die Askari Moschee ist ein besonderes schiitisches Heiligtum, weil dort der zweitletzte Imam der Schiiten begraben liegt; der letzte, der Zwölfte, der in der Okkultation lebt, wird in Samarra wiedererscheinen, wenn er aus der Verborgenheit zurückkehrt. Die Untat wurde auf Zarqawi zurückgeführt. In sofortigen Reaktionen, beginnend am gleichen Tag, kam es zu Plünderungen und Brandstiftung in sunnitischen Moscheen. Sunnitische Moscheevorsteher („Imame“ im Sprachgebrauch der Sunniten) wurden ermordet.
Die Gewaltwelle dehnte sich rasch aus auf Strassen und Wohnhäuser. Zwei Jahre lang wütete ein tödlicher Untergrundkrieg, den die amerikanische Besetzungsmacht nicht beruhigen konnte. Sie versuchte nicht einmal ernsthaft, ihn beizulegen. Angehörige der einen Religionsgemeinschaft, die in Wohngebieten der anderen lebten, wurden bedroht, aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen, und, wenn sie die gegebenen Fristen von wenigen Tagen nicht einhielten, ermordet. Die Häuser wurden von aus anderen Quartieren vertriebenen Religionsgenossen der lokalen Mehrheitskonfession übernommen. Quartiere und Strassenzüge kapselten sich gegeneinander ab. Die Bewohner selbst bewaffneten sich und wirkten als Wächter.
Die Stadt Bagdad wurde in feindliche Parzellen und Quartiere aufgeteilt. Jeden Morgen fand man die Leichen der nächtlichen Opfer, die oftmals Spuren von Folterungen aufwiesen. Es gab bewaffnete Banden, die Personalausweise forderten, aus denen die Zugehörigkeit zu einer oder der anderen Gemeinschaft erkenntlich war. Wer die falschen Ausweise vorzeigte, wurde gefangen genommen und im besten Fall gegen Lösegeld wieder befreit, im schlimmsten zu Tode gefoltert. Kinder wurden bedroht und entführt. Man konnte ihnen nicht mehr erlauben, alleine die Häuser zu verlassen.
Wer die Mittel dazu besass, floh ins Ausland, die Reicheren nach Jordanien, wo nur Begüterte zugelassen wurden, die Ärmeren nach Syrien, das allen Flüchtlingen offen stand. Hunderttausende verliessen das Land oder waren gezwungen, Unterschlupf in Regionen zu suchen, wo ihre Religionsgemeinschaft die Mehrheit bildete. In Bagdad zeichnete sich allmählich ab, dass die Schiiten die Mehrheit bildeten und sich durchsetzen konnten. Einige sunnitische Quartiere, abgeschottet hinter Barrikaden, hielten sich. Doch die Stadt als Ganzes verwandelte sich aus einer gemischten Grossstadt in eine, in der die Schiiten die Mehrheit bildeten.
Die Bewohner der riesigen Elendsquartiere mit einer Millionenbevölkerung von zugewanderten Schiiten aus den südlichen Landesteilen organisierten sich unter der Führung von Muqtada as-Sadr und setzten sich blutig durch. Muqtada Sadr ist der einzige überlebende Sohn des Ayatollah Mohammed Sadiq as-Sadr, der 1999 unter Saddam Hussain ermordet wurde. Der Ayatollah war äusserst beliebt und verehrt, und sein Sohn hat in den Augen seiner Anhänger dieses Prestige geerbt. Die schiitischen Elendsquartiere wurden von Geistlichen organisiert, die Sadr loyal anhingen.
Die riesige Hüttenstadt vor Bagdad, die einst Revolutions-Stadt hiess, dann Saddam-Stadt, heisst heute Sadr-Stadt. Es gibt eine bewaffnete Sadr-Armee von rund 60’000 Mann, die ebenfalls unterschiedliche Namen getragen hat, jedoch von Muqtada mobilisiert oder zum Ruhehalten aufgefordert werden kann und ihm bis heute gehorcht. Sie kämpfte auf Befehl Sadrs zeitweise mit den Amerikanern und brach den Krieg – ebenfalls auf seinen Befehl hin – auch wieder ab. Heute kämpft Muqtada as-Sadr für einen ungeteilten nationalen Irak, und er mobilisiert seine Anhänger periodisch, um gegen die Korruption der Regierung zu protestieren. Seine Partei verfügt über Abgeordnete im irakischen Parlament.
Damals, während des Untergrundkriegs zwischen Schiiten und Sunniten im Irak (2006 und 2007), gab es Bewaffnete, die mehr oder weniger lose mit Sadr verbunden waren und sunnitische Iraki bekämpften, ermordeten und zu Tode folterten. Auch die offizielle Polizei des „neuen Iraks“ neigte der schiitischen Seite zu, weil die meisten der neu eingestellten Polizisten Schiiten waren. Zuvor waren die Sunniten in den militärischen und Sicherheitskräften Saddams führend gewesen. Die amerikanische Besetzung hatte sie aus ihren Posten entfernt.
Bleibender Zwiespalt
Der Untergrund-Widerstand unter Zarqawi sorgte durch seine Bombenanschläge, die in erster Linie stets gegen die Schiiten gerichtet waren, dafür, dass der Hass zwischen Sunniten und Schiiten immer weiter wuchs und nie beigelegt werden konnte. Doch nach etwa zwei Jahren des Bürgerkriegs waren die Wohnviertel der Iraker soweit entweder schiitisch oder sunnitisch geworden und dermassen dicht gegeneinander abgeschottet, dass der Bandenkrieg abnahm und schliesslich weitgehend beigelegt werden konnte.
Die Schiiten hatten gesiegt. Bagdad wurde zu einer mehrheitlich schiitischen Stadt, und die Regierungen, die aufgrund von Wahlen von den Amerikanern eingesetzt wurden, waren und blieben bis heute von schiitischen Politikern und deren Parteien beherrscht. Hass und Misstrauen zwischen den beiden Konfessionen blieben, und Zarqawi sorgte durch seine Bomben dafür, dass sie beständig neu aufgefrischt wurden. Die Bombenangriffe gegen Schiiten im Irak dauern bis heute an.
Die Falludscha-Erhebung
Im April 2004 begann die Erhebung gegen die amerikanische Besetzung in der sunnitischen Stadt Falludscha. Dies war zuerst ein weitgehend lokaler Protest gegen die Einquartierung amerikanischer Truppen in einer Schule der Stadt. Er eskalierte dadurch, dass die amerikanischen Soldaten in die Demonstranten schossen und 17 von ihnen töteten. Doch offenbar waren Terrorkämpfer Zarqawis von Beginn an damit befasst, die Unruhe zu steigern, indem sie sensationelle Mordaktionen an amerikanischen Zivilisten durchführten, die als Hilfskräfte für die amerikanische Armee arbeiteten.
Die Stadt kam soweit in die Hände des Widerstands, dass der amerikanische Kommandant schliesslich dem Plan zustimmte, einer lokalen Überwachungstruppe unter einem irakischen Offizier aus der Zeit Saddam Husseins die Verantwortung für die Sicherheit der Stadt zu überlassen. Dies führte dazu, dass Falludscha vorübergehend zu einer islamistischen Kleinrepublik wurde.
Später, im November 2004, schritten die Amerikaner zu einer Offensive und eroberten die Stadt unter grossen Verlusten an Menschenleben und schweren Zerstörungen zurück. Nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak konnte der „Islamische Staat“ im Januar 2014 Falludscha der irakischen Regierung entreissen und blieb dort bis Ende Juni 2016, als die Stadt nach einer Belagerung von drei Monaten von den irakischen Streitkräften mit Hilfe der amerikanischen Luftwaffe zurückgewonnen wurde. Sie ist heute dermassen zerstört, dass ihre geflohenen Bewohner nicht in sie zurückkehren können.
Zarqawi erklärte seine Gruppe im Irak zur Branche von al-Kaida und gab ihr den neuen Namen „al-Kaida im Iraq“. Inwieweit ihm dies Unterstützung von Zawaheri einbrachte, weiss man nicht. Doch ist bekannt, dass Zawaheri die Methoden Zarqawis nicht billigte. Sie schienen ihm allzu rücksichtslos gegenüber den unschuldigen Opfern, Sunniten und Schiiten, die der Bombenkrieg und der Bürgerkrieg, der aus ihm hervorging, kosteten. Zawaheri forderte Zarqawi mehrmals öffentlich auf, seine Methoden zu mässigen. Dies bewirkte jedoch keine Veränderung der Strategie Zarqawis.
Das Erbe Zarqawis
Zarqawi wurde im Juni 2006 durch einen Luftschlag der Amerikaner getötet, nachdem diese das Haus in der Nähe von Ba'quba ausgekundschaftet hatten, wo er sich versteckt hielt. Doch seine Organisation brach nicht zusammen. Zwei seiner Mitarbeiter übernahmen seine Nachfolge, Abu Ayub al-Masri, ein enger Mitarbeiter Zarqawis, und der mehr schattenhafte Abu Omar al-Bagdadi. Beide zusammen wurden im April 2010 in einem Versteck in Wadi Tharthar erschossen, was jedoch nur dazu führte, dass Abu Bakr al-Bagdadi, der heutige „Kalif“ des „IS“, die Führung der Gruppe übernahm.
Im Dezember 2011 verliessen die letzten amerikanischen Truppen den Irak, und Ministerpräsident Nuri al-Maliki übernahm voll die Regierungsverantwortung. In den beiden Jahren zuvor hatte Präsident Bush die Zahl der amerikanischen Soldaten aufgestockt, um des Widerstands Herr zu werden. Gleichzeitig waren die Stämme der irakischen Wüstenprovinz, die als Sunniten zuerst auf Seiten des Widerstands mitgemacht hatten, der Grausamkeiten und der arbiträren Herrschaft der Islamisten und besonders Zarqawis müde geworden und hatten begonnen, den Widerstand zu verlassen und sich den Amerikanern zuzuwenden.
Diese fanden sich bereit, sie aufzunehmen. Sie bezahlten einem jeden der Stammeskämpfer 300 Dollar im Monat und versprachen ihnen, sie würden nach einer Bewährungszeit in die regulären Streitkräfte des Iraks oder die Sicherheitskräfte aufgenommen. Dieses so genannte „Erwachen“ („Sahwa“) der Stämme, sollte sich als entscheidend erweisen. Das Heer der Stammeskämpfer wuchs auf über 100’000 Mann. Dies waren Personen, die das Land und seine Bewohner intim kannten, in einem Mass, wie es für die Amerikaner unmöglich war. Der Umstand, dass einige von ihnen zuvor auf der Seite der Islamisten gestanden hatten, bot ihnen weitere Einblicke in Wesen und Methoden der dschihadistischen Kämpfer. Sie waren daher in der Lage, ihre neuen Feinde gewissermassen sehend zu bekämpfen, da wo die Amerikaner nur blind gegen sie vorgingen.
Maleki facht das Feuer erneut an
Die „Sahwa“ bewirkte einen schweren Rückschlag für Zarqawi und seine Nachfolger. Ihre Aktivität erreichte, dass die Macht des Widerstandes zurückging und der Eindruck entstehen konnte, der Aufstand der sunnitischen Islamisten sei zurückgeschlagen.
Als jedoch Nuri al-Maliki als Ministerpräsident die Macht übernahm, beging er den entscheidenden Fehler, den Versprechen der Amerikaner gegenüber den Stammeskämpfern nicht nachzukommen. Er entliess die Hälfte von ihnen und weigerte sich, die andere Hälfte in die regulären Sicherheitstruppen aufzunehmen. Er bot ihnen nur kleine Posten in der zivilen Verwaltung an.
Maliki verhielt sich so, weil er ganz und ausschliesslich auf seine eigene Gemeinschaft, die der Schiiten, setzte und die Sicherheit seiner Person, seiner Führungsstellung und seines Landes nur schiitischen Kräften anvertrauen wollte. Maliki selbst stammte aus der schiitischen Da'wa-Bewegung, die jahrzehntelang verzweifelt gegen Saddam Hussein und seine meist sunnitischen Vertrauensleute gekämpft hatte. Maliki hatte als einer der Anführer dieser Bewegung im Exil, meistenteils in Damaskus, gewirkt. Im Irak arbeitete Da'wa damals mit Bomben gegen Saddam Hussein, und auf Mitgliedschaft in der Bewegung stand Todesstrafe.
Die Stammesleute, welche die Front gewechselt hatten, kehrten teilweise wieder zum islamistischen Widerstand zurück. Andere, die dies nicht wollten oder nicht konnten, weil sie sich als Anführer von „Sahwa“ exponiert hatten, wurden Opfer der Rache, die die Zarqawi-Anhänger an ihnen übten. Alle waren enttäuscht und verbittert über die nicht eingehaltenen Versprechen. Wer es vermochte, zog sich mit seinen Waffen in die fernen Wüstenzonen der irakischen Anbar-Provinz zurück oder wechselte über die offene Wüstengrenze auf die syrische Seite der Wüste.
Wende unter Abu Bakr al-Bagdadi
Die Ausschaltung der „Sahwa“ durch Maleki gab dem Nachfolger der gefallenen ersten Equipe nach Zarqawi, der sich Abu Bakr al-Bagdadi nannte, neuen Auftrieb. Seine offizielle Bestätigung als Führer der irakischen Branche von al-Kaida erfolgte im August 2011. Seine vermehrte Macht zeigte sich zuerst in einer Folge von erfolgreichen Gefängniseinbrüchen, durch die er grössere Zahlen von gefangenen Islamisten befreite.
Unter ihm wurde auch die Propaganda der Gruppe im Internet intensiver und erreichte geradezu professionelle Qualität. Er intensivierte die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Offizieren und Geheimdienstleuten Saddam Husseins und bot ihnen Gelegenheit, führende Positionen innerhalb der jihadistischen Organisation einzunehmen. Von ihnen lernten die Jihadisten die Methoden, die dazu dienen, einen Staat aufzubauen, zu kontrollieren und zu finanzieren.
Sie lernten auch, wie man Furcht und Schrecken dazu einsetzen kann, eine Bevölkerung zu knechten. Und ebenso erfuhren sie mehr über die Bedeutung des Sammelns genauer Information über die Bevölkerung der künftig zu erobernden Landesteile und Gruppen mit dem Ziel, jene Kreise zu finden, die sich für eine Zusammenarbeit hergeben, und sie zu trennen von jenen, die als unversöhnliche Feinde eingestuft werden müssen. Die Feinde werden am besten sofort nach der Machtergreifung des neuen Regimes eliminiert. Zu diesem Zweck muss man die zukünftigen Untertanen schon vor ihrer Unterwerfung ausspionieren und im Voraus möglichst vollständige Listen über sie anlegen.
Ausweitung auf Syrien
Das Jahr der Einsetzung Abu Bakr al-Bagdadis, 2011, war auch jenes, in dem der Volksaufstand in Syrien ausbrach. Dieser war die letzte der Volkserhebungen der damals als „arabischer Frühling“ gesehenen Protestwelle, die die arabische Welt überspülte. Vorausgegangen waren Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen und Libyen. In Syrien war es seit März 2011 die sunnitische Bevölkerungsmehrheit, die gegen ein Regime aufbegehrte.
Das Regime, das schon seit vierzig Jahren bestand, stützte sich weitgehend auf die alawitische Minderheit ab und wurde auch von der alawitischen Asad-Familie angeführt. Deshalb lag es nah für die sunnitische Kaida und deren Tochterorganisationen in Syrien, die Partei der Sunniten zu ergreifen. Kaida-Chef Zawaheri rief aus seinem Versteck in Afghanistan oder Pakistan die sunnitische Jugend dazu auf, in Syrien einen Dschihad zu beginnen.
Paradoxerweise begünstigte das Asad-Regime die Absichten Zawaheris. Baschar al-Asad entliess – ohne Zweifel auf Anraten seiner Geheimdienstleute – eine grössere Zahl von führenden dschihadistischen Gefangenen aus seinen Verliessen durch eine Amnestie, die er ihnen – nur gerade den gewalttätigen Dschihadisten unter seinen politischen Widersachern – gewährte. Der Zweck der Übung war ohne Zweifel, zuzulassen, dass sie mit ihren Gesinnungsgenossen bei der Volkserhebung mitmachten und ihr durch ihre Präsenz die liberale und pro-demokratische Ausrichtung entzogen, welche die Volkserhebung anfänglich aufwies.
Wenn die Erhebung eine „dschihadistische“ Färbung annahm, erschien die Sicht der Asad-Regierung gerechtfertigt, nach welcher alle Protestgruppen „Terroristen“ seien. Dieser Vorwurf diente der Regierung auch dazu, die anderen syrischen Minderheiten – die wichtigste von ihnen waren die syrischen Christen – auf der Seite des Regimes zu halten: aus Furcht vor den Dschihadisten. Gegenüber den Dschihadisten erschien das Asad-Regime den nicht-sunnitischen Minderheiten in Syrien als das kleinere Übel.
Aus derartigen Gründen förderte das Regime anfänglich das Gewicht der islamistischen Dschihadisten innerhalb der Protest- und Aufstandsbewegung. Diese schlug im Laufe des Sommers – vielleicht plangemäss (nach den Plänen der syrischen Geheimdienstler) – von einem Volksprotest um in einen bewaffneten Aufstand, zu grossen und wachsenden Teilen getragen von gewalttätigen Dschihadisten.
Übergriff aus dem Irak
Die benachbarte irakische Dschihadisten-Gruppe al-Bagdadis suchte sich an dieser Entwicklung in Syrien zu beteiligen. Sie entsandte einen der Ihrigen syrischer Herkunft, der den Kriegsnamen Abu Muhammed al-Golani trug und noch trägt, hinüber nach Syrien. Die ersten Aktivitäten der syrischen Zweiggruppe, die sich später Nusra-Front nennen sollte, waren die sensationellen Bombenanschäge in Damaskus vom Dezember 2011. Im folgenden Jahr trat die Nusra-Front mit eigenen Communiqués im Internet auf. Sie war bestrebt, als syrische Dschihadistengruppe zu erscheinen, und sie profitierte vom Glanz der ersten Protestwelle in Syrien. Viele Beobachter innerhalb und ausserhalb der arabischen Welt glaubten damals, die Tage Asads seien gezählt.
Die Chance, bei dem erwarteten Sieg in Syrien dabei zu sein, wirkte stimulierend auf die Dschihadisten im In- und im Ausland, und die Nusra-Front erhielt viel Zulauf von Freiwilligen aus den arabischen Ländern und aus Europa sowie Geldunterstützung aus dem Golf. Al-Bagdadi, der sich die Aussichten auf einen Erfolg in Syrien nicht entgehen lassen wollte, begab sich selbst nach Syrien und versuchte, seine syrische Zweigorganisation in die eigene Hand zu nehmen.
Doch der Syrer al-Golani wollte sich Al-Bagdadi nicht unterordnen. Er erklärte, seine Organisation gehe darauf aus, Syrien zu unterwerfen und dort einen islamischen Staat zu errichten. 2013 kam es zum Streit. Zawaheri wurde angerufen und sollte schlichten. Nach vergeblichen Versöhnungsversuchen erklärte der Kaida-Chef, al-Bagdadi und seine Gruppe sollten den Dschihad im Irak führen, al-Golani und die Seinen in Syrien. Doch al-Bagdadi nahm dies nicht an. Er schied aus al-Kaida aus und erklärte sich als nach wie vor zuständig für die Führung des Dschihads in beiden Staaten, dem Irak und Syrien. Al-Golanis Nusra-Front blieb bei al-Kaida und erklärte sich als die syrische Zweigorganisation der Bewegung, die Zawaheris Führung unterstand.
Noch vor diesem Streit hatten sich die Kämpfer Bagdadis und jene Golanis gemeinsam mit anderen syrischen Widerstandsgruppen der Provinzhauptstadt Raqqa am Euphrat im Syrischen Osten bemächtigt, und in der Folge war es den Anhängern al-Bagdadis gelungen, alle Rivalengruppen, einschliesslich der Nusra-Front, aus Raqqa zu verdrängen und dort ein Machtmonopol zu errichten. Andere Regionen weiter im Westen Syriens, die von den beiden Islamisten gemeinsam beherrscht waren, fielen der Nusra-Front zu, als es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppierungen kam.
Nusra betrieb eine weniger exklusive Politik als Bagdadi. Die Front ging Bündnisse mit ähnlich gesonnenen islamistischen Gruppen ein und kämpfte zusammen mit ihnen. Als gemeinsames Ziel galt der Sturz Asads und der erhoffte „islamische Staat“ Syrien.