Weiter ging die Reise nach Norden mit dem Ziel der sich noch im Bau befindenden, neuen Hauptstadt des Staates Punjab, Chandigarh. Dort sollte sich das Mantra Hare Krishna, Hare Rama, welches mit dem Gott Vishnu assoziiert wird („Der uns von Fantasiegebilden befreit“) in unerwarteter Weise erfüllen, denn zumindest eine meiner Illusionen – sie betraf das Projekt eines bekannten Schweizer Architekten – wurde damals tatsächlich erheblich zurechtgerückt.
Indiens und Pakistans Unabhängigkeit im Jahre 1947 löste zwischen den zwei neugeschaffenen Staaten bereits mehrere schreckliche Kriege und einen bitteren, noch heute anhaltenden Zwist um die Region Kaschmir aus. Unter anderem resultierte daraus auch die Trennung der früheren British-India Provinz Punjab, dessen Kapitale Lahore in der Folge im West-Punjab, d. h. in Pakistan lag. Der Indien zugeteilte Provinzteil musste sich folglich nach einer neuen Hauptstadt umsehen, deren Lokalität schliesslich an seiner äussersten Ostgrenze gefunden wurde. Die Stadt sollte ein Symbol werden für die Schönheit und Fortschrittlichkeit dieser am Fusse der Himalaya-Kette gelegenen Gegend und damit dem Volk der Punjabi ihren durch die Zweiteilung ihres Heimatstaates verletzten Stolz zurückgeben.
Der ursprüngliche Plan eines amerikanischen Architekten wurde bald ad acta gelegt, denn Charles Edouard Jeanneret, alias Le Corbusier, berühmtester Sohn der schweizerischen Kleinstadt La Chaux-de-Fonds, hatte inzwischen ein neues, ziemlich revolutionäres Projekt entworfen. Dieses wurde auch aktiv gefördert vom Ministerpräsidenten Pandit Nehru der, zusammen mit dem Architekten, im Jahre 1951 höchstpersönlich die Baustelle der Stadt feierlich eröffnete. Sie sollte den Namen Chandigarh erhalten, was vorerst in meinen Ohren noch so verheissungsvoll wie Shangri-La klang. Während über zwanzig Jahren würden nun Legionen von Helfern und Arbeitern versuchen, die Vision des Schweizer Architekten mit den indischen Realitäten in Einklang zu bringen.
Bevor Le Corbusier nach Frankreich zurückkehrte, vollendete er alle seine Projektskizzen und Pläne für die neue Hauptstadt, inklusive jene für das Regierungsviertel und dessen ganz besonders repräsentatives, als „Capitol-Komplex“ bekannt gewordenes Verwaltungsgebäude. Die praktische Ausführung des Projekts überliess er grösstenteils seinem Cousin Pierre Jeanneret, ebenfalls aus La Chaux-de-Fonds, der sich fast 15 Jahre lang um eine möglichst getreue Umsetzung der Pläne seines berühmten Verwandten bemühte.
Sobald ich realisierte, dass mich meine Reise bis nach Indien führen würde, hatte ich mich gewaltig auf den Besuch dieser Kultstätte moderner Städteplanung und Architektur gefreut. Und nun stand ich hier auf dem riesigen Bauplatz in einem Wechselbad der Gefühle, ausgelöst durch die Mischung von Genialität und Arroganz dieses halbvollendeten Projekts. Das konsequent rechtwinklig angelegte Strassennetz erinnerte tatsächlich an das kleine Jurastädtchen, aus dem der Architekt stammte, und es schien auch bestens zu funktionieren. Allerdings musste das Gelände dem Konzept auch entsprechend untergeordnet werden, was zum Teil ziemlich brutale Eingriffe in die bestehende Landschaft erforderte.
Doch auf solche Kritik reagierte der grosse Meister eher unwirsch und erklärte öffentlich: „Ich tat das Richtige. Wo Ordnung ist, ist Harmonie. Ich habe Recht.“ Davon war er auch überzeugt, was die Architektur der Regierungsgebäude betraf, deren Monumentalität und kalte Sterilität ebenfalls kritische Reaktionen provoziert hatten. Doch in den enormen Betonmassen entdeckte ich auch erstaunliche Lichteffekte und faszinierende, farbige Wandmalereien, immerhin ein positiver Aspekt dieses typischen Beispiels des permanenten Konflikts zwischen Funktionalität und Form.
Man kann sich natürlich fragen, ob die Planung einer Stadt in einem Land, welches Le Corbusier offenbar sehr wenig kannte, eine gute Idee war. Für das Projekt des Architekten war jedenfalls der
Einbezug der spezifischen klimatischen und kulturellen Gegebenheiten Punjabs offenbar kaum erste Priorität. Und was sich wohl die Einheimischen dachten? Immerhin generierte das Projekt eine grosse Anzahl von Jobs und Unterkünften, und ich beobachtete auch mit einiger Belustigung, dass sich in den Vorhöfen der gigantischen Verwaltungsgebäude bereits zahlreiche Menschen illegal eingerichtet hatten, deren vielfarbige Decken und Tücher die grauen Betonfassaden wohltuend belebten.
Der spektakuläre Capitol-Gebäudekomplex wurde übrigens nie ganz vollendet wie geplant und das kolossale Hauptgebäude stand lange Zeit leer, teilweise von Stacheldraht umgeben. Jetzt sind alle Bauten offen und im Gebrauch, wenn auch, aus Sicherheitsgründen, mit beschränktem Zugang. Doch aus der damaligen riesigen Baustelle ist eine heute florierende Stadt entstanden, in der über eine Million Menschen leben und arbeiten, wovon Zehntausende Regierungsbeamte mit ihren Familien, eine typische Folge der in Indien notorisch überbordenden Bürokratie. Und dank der grosszügigen geometrischen Planung vor bald siebzig Jahren ist Chandigarh heute die vielleicht einzige indische Stadt, in der die Verkehrsprobleme noch einigermassen überschaubar und lösbar scheinen.
Nach allem, was heute über Le Corbusier bekannt ist, kann man sagen, dass er ein genialischer Künstler und Architekt, aber auch ein ziemlich radikaler, rechthaberischer Mensch war. Bescheidenheit oder Empathie gehörten nicht zu seinen Stärken, und seine Interpretation der Grundbedürfnisse und Prioritäten der Weltbewohner schien zumindest sehr eigenartig. Er hatte dies bereits in den Zwanziger und Dreissiger Jahren unter Beweis gestellt, als er vorschlug, Städte wie Paris, Stockholm, Algier oder Buenos Aires zu „säubern“, d. h. grösstenteils abzureissen, nach der simplistischen Maxime „eine kurvige Strasse ist für Esel konzipiert, eine gerade Strasse für Menschen“. Und so verliess ich junger Architekturstudent die entstehende imposante Stadt sehr nachdenklich und mit gemischten Gefühlen, denn als begeisterter Bewunderer der Chapelle de Notre-Dame du Haut in Ronchamp war nun doch ein guter Teil meiner Verehrung für den grossen Meister auf der Strecke geblieben.
Mein nächstes Ziel war Amritsars „Harmandir Sahib“ (Haus Gottes), auch Goldener Tempel genannt, ein weiteres architektonisches Phänomen, diesmal von eher ausserirdischem Charakter. Tausende von Pilgern und Bewunderern strömten täglich zu diesem kleinen, fast völlig von Wasser und einem riesigen weissen Palast umgebenen, vergoldeten Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert, dessen vier Pforten die Offenheit der Sikh-Gläubigen gegenüber allen Menschen und Religionen symbolisieren sollten. Im Zentrum des Tempels sitzend versuchte ich das Mantra der Öffnung zu verinnerlichen, doch zur spirituellen Einkehr eignete sich der von zahllosen Menschen überlaufene Ort wenig.
Gut zwanzig Jahre später ereignete sich dann das grosse Drama: Die ganze Anlage wurde nämlich im Mai 1984 ironischerweise von Hunderten, gar nicht so offenen, dafür umso militanteren Sikh-Aktivisten besetzt, welche das Heiligtum umgehend in ein Waffenlager und eine Festung verwandelten – eine üble Aktion, welche seitens der indischen Zentralregierung eine ebenso üble Reaktion provozierte. Ermuntert durch eine andere eiserne Lady namens Margaret Thatcher, tappte nämlich Ministerpräsidentin Indira Gandhi blind in die Falle der Extremisten, indem sie umgehend einen militärischen Angriff befahl, welcher fünf Tage später mit Hunderten von Toten und der teilweisen Zerstörung der Kultstätte endete. Der Tempel war nun für immer geschändet und entweiht, und die brutale Art ihrer „Konfliktlösung“ kostete ein paar Monate später auch Gandhi selbst, durch ein Attentat, das Leben.