Sie war Sportlerin, Alpinistin, Asien-Reisende aus Passion, Fotografin, Schriftstellerin: Ella Maillart (1903–1997). Die Genferin ist weit mehr als nur die Begleiterin Annemarie Schwarzenbachs. Das Musée Rath widmet ihr eine eine reichhaltige Ausstellung.
1934 brach Ella Maillart, erst 31 Jahre alt, in Peking auf zu ihrer grossen Reise quer durch China bis nach Kaschmir, in der Tasche einen Auftrag der Zeitschrift «Le Petit Parisien». Mit dem «Times»-Reporter und Schriftsteller Peter Fleming, dem Bruder des «James Bond»-Autors Ian Fleming, bildete sie während Monaten eine Schicksalsgemeinschaft. Die Reise führte Maillart und Fleming zuerst mit Bahn und auf Lastwagen, dann grösstenteils mit Kamelen, Eseln oder gar zu Fuss vorbei an Karawansereien durch einsam-verlassene Gegenden und Steinwüsten, entlang kaum erkennbarer Wege, extremen Witterungen ausgesetzt. Schwierigkeiten (auch mit Behörden) reihten sich an Schwierigkeiten, Abenteuer an Abenteuer.
Wir mussten jetzt noch eine lehmgraue Ebene durchqueren, die so flach und einförmig war wie das Meer. Es war ein ungetrübt heiterer Morgen, an dem ich mich in schönster Harmonie mit der ganzen Welt fühlte und mich fragte, was denn eigentlich an dieser grenzenlosen Leere so ungemein befriedigend war.
All das war nur mit viel Improvisationstalent, Geduld und Durchsetzungsvermögen zu bewältigen. Die Reise bescherte dem Duo wertvolle menschliche Begegnungen, Einblicke in den Alltag verschiedener Völker und in damals aktuelle politische Probleme. Ella Maillart wurden überdies auch Erlebnisse von spiritueller Tiefe zuteil; das obige Zitat legt davon Zeugnis ab.
Nüchtern, genau beobachtend, teils beinahe emotionslos und mit klarem Blick auch fürs kleinste Detail und ebenso für die grossen Zusammenhänge schilderte sie in ihrem Buch «Verbotene Reise – Von Peking nach Kaschmir» ihre Erlebnisse quer durch das riesige China. Die Publikation zählt seit ihrem Erscheinen im Jahr 1937 zu den wichtigsten Klassikern Schweizer Reiseliteratur. Sie ist, auch dank der Fotos der Autorin, welche den Text begleiten, von unschätzbarem dokumentarischem Wert.
Begleiterin Annemarie Schwarzenbachs
Vielen Deutschschweizer Literaturkennerinnen und –kennern wird Ella Maillart vor allem vertraut sein, weil sie die einer der reichsten Schweizer Industriellenfamilien entstammende Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) im Jahr 1939 in deren Ford-Cabriolet auf der Reise von Genf nach Afghanistan begleitete.
Auch diese Reise führte zu einer Publikation: «Der bittere Weg» – der französische Titel «La v-oie cruelle» ist drastischer – schildert die abenteuerliche Fahrt, deren Ziel es war, Schwarzenbach von ihrem Drogenkonsum wegzuführen, was allerdings misslingen musste – ein Umstand, der das Einvernehmen der beiden jungen Frauen merklich trübte. Auf Geheiss von Annemaries Mutter Renée Schwarzenbach, Tochter von General Ulrich Wille, musste Maillart in der Publikation den Vornamen ihrer zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (1948) bereits verstorbenen Reisefreundin Annemarie durch Christina ersetzen – um der Anonymität willen.
Universelle Persönlichkeit
Beide Publikationen Ella Maillarts sind bedeutende Beiträge zur Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung im Genfer Musée Rath – dem Haus für Wechselausstellungen des Genfer Musée d’Art et d’Histoire – führt allerdings sehr viel weiter und stellt Maillart in rund 150 Dokumenten als faszinierende Persönlichkeit und Allrounderin vor, die sich ihre vielfältigen Spezialkenntnisse selber erarbeitet hat. Die Vitrinen enthalten Fotografien von Maillarts Hand (originale oder Neuabzüge), aber auch Aufnahmen anderer Fotografinnen und Fotografen, die Ella Maillart zeigen, ferner Notizen, olympische Diplome, Visa, Passierscheine, Zeichnungen, Zeitungsausschnitte, Briefe, Publikationen und Erinnerungsgegenstände.
Die Dokumente geben Einblick in eine für Frauen von Maillarts Generation höchst unübliche Biographie. Sie kam 1903 als Tochter eines wohlhabenden Genfer Pelzhändlers zur Welt, verliess aber, noch nicht 20-jährig, das Elternhaus und suchte ihren eigenen selbstverantworteten und ungeschützten Lebensweg. Vor der Matura verliess sie das Gymnasium. 1922 segelte sie mit einer Jugendfreundin nach Korsika. Weitere Bootsreisen durch das Mittelmeer folgten.
Maillart war eine ehrgeizige und begeisterte Sportlerin und Alpinistin. 1924 vertrat sie die Schweiz bei den Olympischen Sommerspielen in Paris im Einhandsegeln. Als Skiläuferin war sie Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft, und sie wurde Trainerin des Schweizer Damen-Landhockey-Teams. Bereits 1930 bis 1932 unternahm sie – oft allein – Reisen nach Moskau, in den Kaukasus und in die Sowjetrepubliken Zentralasiens. Darüber verfasste sie Zeitungsartikel und ihre ersten mit Fotografien versehenen Bücher.
Gelebte Eigenständigkeit
Ich wage folgende Definition des Reisenden: Der wahre Reisende ist jemand, der sowohl aus physischen, ästhetischen und intellektuellen als auch aus spirituellen Gründen zum Aufbruch angetrieben wird.
Unabhängiges Reisen war die Passion Ella Maillarts. Der Genfer Schriftsteller Nicolas Bouvier (1919–1998), der 1953 mit einem Freund ebenfalls nach Kabul fuhr (statt in einem stattlichen Ford allerdings in einem winzigen Fiat Topolino), erkundigte sich vor Reiseantritt bei Ella Maillart nach der besten Route und bekam zur lakonisch-kühle Antwort: «Wo immer Menschen leben, kann auch ein Reisender leben … Versuchen Sie’s doch mit dieser Route, und wenn sie Ihnen nicht passt, dann kehren Sie eben um!»
Nicolas Bouvier war selbst ein sensibler und allem Neuen und Unvorhersehbaren gegenüber offener Reiseschriftsteller. Die Schilderung seiner Kabul-Reise («L‘usage du monde», 1963, deutsch «Die Erfahrung der Welt») ist dafür beeindruckendes Zeugnis. Bouvier machte sich auch als Herausgeber von Maillarts Fotografien verdient. Auch Charles-Henri Favrod (1927–2017), Gründer des Lausanner Musée de l’Elysée und eigentlicher «Aktivist» in seinem unermüdlichen Einsatz für die Belange des fotografischen Erbes, setzte sich für die Anerkennung von Ella Maillarts Werk ein.
Maillarts Antwort auf Nicolas Bouviers Frage zeugt von der erheblichen Risikobereitschaft und vom ausgeprägten Selbstbewusstsein einer Frau, die, ohne von Feminismus zu reden, ihre Eigenständigkeit ungefragt und selbstverständlich lebte. Ähnliches gilt von ihren Begegnungen mit Menschen aus völlig anderen Kulturkreisen. Sie gab ihnen in Text und Fotografie Würde und Eigenständigkeit – weit entfernt von jenem überheblichen Voyeurismus, der sich oft in Reiseschilderungen einschleicht.
Zeugen einer entschwundenen Welt
Ella Maillarts Fotografien, teils vor bald hundert Jahren aufgenommen, dokumentieren, gerade wegen der notgedrungen beschaulichen, wenn auch fordernden Art des damaligen Reisens, eine heute weitgehend entschwundene Welt. Ohne dass die Fotografin das ausdrücklich sagen würde, vermitteln diese Bilder eine Botschaft im Sinne eines Plädoyers für Beharrlichkeit, Geduld und Ausdauer in der Begegnung mit dem Fremden, das uns nur in der Dimension der Zeit vertraut werden kann.
Die Zeit des Zweiten Weltkrieges verbrachte Ella Maillart in Südindien, wohin sie nach der Rückkehr Annemarie Schwarzenbachs in die Schweiz von Kabul aus weiterzog und wo sie sich spiritueller Einkehr unter der Leitung von Meistern widmete. Nach ihrer Rückkehr nach Europa 1945 liess sie sich in Genf und bald in Chandolin im Val d’Anniviers nieder, knapp 2000 Meter über Meer. Auch diese letzte Station ist in der Ausstellung dokumentiert – zum Beispiel mit Bildern einer Bäuerin beim Heutransport oder von Fronleichnam im Bergdorf. Manche dieser Fotos muten an, als seien sie im gebirgigen Zentralasien aufgenommen worden. Maillart widmete sich weiterhin schriftstellerischen Arbeiten und hielt Vorträge. Oft kehrte sie nach Indien zurück und begleitete kleine Touristengruppen auf Reisen in asiatische Länder. 1997 starb sie hochbetagt in Chandolin.
Die Ausstellung im Musée Rath dokumentiert das reiche Leben einer faszinierenden Frau mit weitgespannten Interessen und Lebenserfahrungen. Sie stösst auf ein reges Publikumsinteresse – vielleicht gerade darum, weil sie einer Frau gilt, die ihre Träume nicht Träume bleiben liess, sondern sie risikobereit, eigenständig und selbstbewusst zu leben vermochte.
Allerdings: Auch wenn die Ausstellung Kennern von Ella Maillart manche farbige Detailinformationen zu vermitteln vermag, ersetzt sie nicht die Lektüre ihrer Werke und ein geduldiges Betrachten ihrer Bilder. Das erfordert Zeit. Zwei Video-Installationen von Anne-Julie Raccoursier und Pauline Julier begleiten die Ella-Maillart-Ausstellung. Beide Westschweizer Künstlerinnen stellen sich je auf ihre Art der Auseinandersetzung mit Werk der grossen Reisenden.
Der schriftliche Nachlass Ella Maillarts – Reiseliteratur, Essays sowie zahlreiche Reportagen – wird von der Bibliothèque de Genève betreut, ihr fotografisches Werk vom Museum Photo Elysée in Lausanne. Ihre Dokumentarfilme liegen in der Sammlung der Cinémathèque Suisse in Lausanne.
Genf, Musée Rath, bis 21. April
Alle Bilder © Nachlass Ella Maillart und Photo Elysée Lausanne