Nach der Lektüre hatte sich ihm eine Frage aufgedrängt und ihn nicht mehr losgelassen: Was hatte er mit seinem Leben gemacht, diesem einmaligen Geschenk, das ihm zugefallen war?
Ein berühmter Medizinprofessor
Haben Sie sich jemals diese Frage gestellt? Nein? Sie sind wohl noch zu jung dazu. Derlei fragt man erst im Alter. Vorher ist man mit leben beschäftigt, vollauf in Anspruch genommen davon. Das ist ja auch gut so. Man soll leben, soll sich dem Leben hingeben und die ganze Buntheit, die es darbietet, auskosten mit allen Glückseligkeiten, Leiden und Verfehlungen. Das Fragen kommt am Ende immer noch früh genug.
Tschechows Novelle handelt von einem berühmten Professor der Medizin, der sein Leben ausschließlich der Wissenschaft gewidmet hat. Die Wissenschaft war für ihn das „Allerwichtigste, das Herrlichste und Notwendigste im Menschenleben“ und „die höchste Offenbarung der Liebe“ – der Liebe, die er dem Waisenkind Katja, Töchterchen eines verstorbenen Kollegen, das ihm einst als Mündel anvertraut worden war, nicht entgegenzubringen vermochte.
Keine Antwort auf Katjas verzweifelte Frage
Als Katja, inzwischen erwachsen, ihn eines Tages aufsucht, verzweifelnd an sich und am Leben und ihn zu wiederholten Malen anfleht, ihm zu sagen, was sie tun soll, wie sie weiter leben soll, weiterleben könne, denn sie könne nicht weiterleben, steht er ihr ratlos gegenüber und vermag ihr nur immer wieder die gleiche Antwort zu geben: „ Ich weiß es nicht. Auf Ehre und Gewissen, Katja: ich weiß es nicht.“ Er, der doch alles weiß: vor dieser grundsätzlichsten aller Lebensfragen: Wie soll ich leben, versagt er.
Was heisst hier versagen, fragte sich Sormann, nachdem er ans Ende der Novelle gelangt war. Das war doch, so sagte er sich, das Leben des Professors, sein Leben wie er es sich gewünscht hatte und das ihn erfüllte. Er war in seiner Forschung, in seinen Büchern glücklich, leistete Beiträge zum Fortschritt, da kann doch kein Versagen vorliegen. Und doch, als Katja ihn, der alles wusste und den sie wie einen Vater liebte und verehrte, in tiefster Verzweiflung um Hilfe anflehte, konnte er ihr nicht helfen.
Er konnte den Studenten erklären, wie man Patienten auskultiert, eine Lungenentzündung heilt, einen entzündeten Blinddarm entfernt; aber als es darum ging, nicht Fachwissen zu vermitteln, sondern das Herz , die Seele – nennen Sie es wie Sie wollen – sprechen zu lassen oder auch nur die weinende Frau schweigend in die Arme zu schließen, da war kein Herz, keine Seele da.
Hatte er geliebt?
Dankbar sagte sich Sormann, dass er keiner solchen Prüfung ausgesetzt worden war. Er blickte zurück, versenkte sich in seine Vergangenheit. Wie sah sie aus? Wie bot sie sich ihm dar? Würde der Knabe, der er war, sich wieder erkennen in dem Mann, der er geworden? Mit Genugtuung sagte er sich, dass auch er in seinem Beruf tüchtig und erfolgreich gewesen war. Maschinenbauingenieur. Keine Professur, aber ein Getriebeteil, den er zur Erleichterung der Schaltung erfunden hatte, wurde in Fachbüchern unter seinem Namen geführt. Das erfüllte ihn mit Stolz. Und um sich einmal mehr daran zu erfreuen, ging er zum Bücherregal, nahm ein Fachbuch und öffnete es bei einer Seitenzahl, die er kannte.
Da stand es: eine Skizze des Teilchens mit Massangaben und seinem Namen. Gab es sonst noch etwas, auf das er stolz sein konnte? Hatte er geliebt? Er hatte geheiratet, Kinder gezeugt, der Familie ein schönes, friedvolles Heim geschaffen, den Kindern Geschenke gegeben, der Gattin an Wochenenden ein paar Rosen oder Nelken gebracht, und als sie erkrankte, hatte er sie gepflegt, jedenfalls so weit es ihm, wie er sich versicherte, im Rahmen seiner Kräfte möglich war, und über ihrem Sarg hatte er geweint, mehr pflichtgemäß als aus Trauer.
Ja, das war alles
Nun traf er zwei Mal in der Woche am Stammtisch mit Freunden und ehemaligen Kollegen zusammen, spielte leidlich Skat, ging gelegentlich in die Oper, fürs Kino, das er einst geliebt hatte, waren seine Augen zu schwach geworden, und im Sommer ging er für zwei Wochen in die Berge wandern, traf im Hotel die gleichen Gäste wie im Vorjahr und Vor-vorjahr und unterhielt sich nach dem Abendessen mit ihnen über die Tagesaktualitäten, die das Fernsehen im Nachrichtendienst mitteilte. Meeresstrände mochte er nicht.
Und er fragte sich: War das alles? Und nach einer Weile des Überlegens stellte er fest: Ja, das war alles. Und das war’s.