Benjamin Appl gehört zu den führenden Klassik-Sängern, insbesondere auch in der Sparte «Lied». An Weihnachten ist er mit der «Winterreise» von Franz Schubert in einem spektakulären Fernsehfilm zu erleben, der unter extremen Wetterverhältnissen im und um den Roten Turm auf dem Julierpass produziert wurde.
«Diesen Film zu drehen war eine der grössten Herausforderungen in meinem bisherigen beruflichen Leben», sagt Benjamin Appl heute, ein Jahr nach den Dreharbeiten am Tag des grossen Wintereinbruchs auf dem Julierpass und im Roten Turm. «Die Bedingungen draussen im Schnee, die langen Wartezeiten, dazu die Höhenmeter und der Zeitdruck liessen mich oftmals an meine Grenzen kommen. Dies wird für mich jedes Mal wieder erlebbar, wenn ich den Film ansehe.» Erlebbar wird es am zweiten Weihnachtsfeiertag auch für das Fernsehpublikum. Der Film heisst «Die Winterreise» und es geht um den berühmten Liederzyklus gleichen Titels von Franz Schubert.
So beschaulich, wie man meinen könnte, wenn man an Schubert’sche Lieder denkt, geht es nicht zu. Schneesturm und Kälte, die archaische Berglandschaft auf der Julierpasshöhe, Einsamkeit und ein paar Bergdohlen am Himmel, das ist die Kulisse, in der Appl sich vor einem Jahr auf die musikalische Reise in den Winter begab. Dazu noch Corona und Maskenpflicht zu jener Zeit.
Aber dies alles war letztlich zweitrangig. «Ich bin unglaublich dankbar, dass eine Fernsehanstalt wie die BBC im Jahr 2022 dem Kunstlied eine solche Plattform gibt und diesen Film in Auftrag gab», sagt Appl heute. «Die Erlebnisse in dieser wunderbaren Landschaft, der unglaubliche rote Theaterturm am Julierpass und die Menschen, mit denen ich dort zusammenkommen durfte, bleiben unvergesslich.»
Ungewöhnlicher Drehort
Vor gut einem Jahr haben wir uns also getroffen, im Roten Turm, im Tiefschnee und unter blauem Himmel. Tags zuvor ist der erste heftige Schneesturm des Winters über den Julier gefegt. «Die Anreise war für mich buchstäblich auch schon eine ‘Winterreise’», erzählte Benjamin Appl damals. «Ich hatte am Flughafen ein Auto gemietet, das hatte noch Sommerreifen und gleich am Anfang des Passes bin ich stecken geblieben und sass drei Stunden im Auto, bis mich jemand befreite. Es war der richtige Beginn für die ‘Winterreise’.»
Der ungewöhnliche Drehort war Benjamin Appls Idee und Wunsch. «Ich hatte einen Meisterkurs bei ‘Lied Basel’ geleitet und einer meiner Studenten war Maximilian Vogler, der hier bei ‘Origen’ involviert ist. Er zeigte mir Bilder vom Turm und ich war total begeistert. Ein paar Wochen später habe ich mit Giovanni Netzer Kontakt aufgenommen und dem BBC-Regisseure John Bridcut davon erzählt. Auch er war sofort hell begeistert.» Dann allerdings wurde es schwieriger, die BBC in Zeiten von Sparmassnahmen und Corona davon zu überzeugen, hier einen Film zu drehen. Als das Schweizer Fernsehen dann auch noch ins Projekt einstieg, konnte es losgehen. Die gesamte Vorlaufszeit betrug etwa zwei Jahre.
Reflexionen der inneren Welten
Während der Kameramann die nächste Einstellung vorbereitet und die Tontechniker an den Aufnahmegeräten schrauben, erzählt Benjamin Appl: «Die ‘Winterreise’ ist ein Zyklus, den ich schon sehr früh gelernt habe, obwohl es immer heisst, man brauche Lebenserfahrung dafür. Aber das Spannende daran ist doch, dass es tatsächlich eine Reise ist, man steht vor Wegweisern und Strassenkreuzungen, man kann sich immer entscheiden, in eine andere Richtung zu gehen, in eine melancholischere, in eine positivere, hellere, und so viele Wege sind relevant und berechtigt. Der Winter ist ein Sinnbild der inneren Kälte, weniger der äusseren. Die Lieder sind Reflexionen, die inneren Welten zu ergründen.»
Die 24 Lieder der «Winterreise» sind für alle Liedsänger ein Grundpfeiler im Repertoire. «Daran wird man auch gemessen», betont Appl. «Seit der Nachkriegszeit gibt es ganz wunderbare Einspielungen, die zu Referenzaufnahmen geworden sind. Da ist es schwierig für einen Sänger des 21. Jahrhunderts, etwas Persönliches einzubringen. Und man hat auch nicht immer das Publikum, das unvoreingenommen und mit frischen Ohren ins Konzert kommt.» Hier im und um den Roten Turm bieten sich die faszinierenden Bilder fast wie von selber an, um die Liedtexte zu illustrieren. Da steht Benjamin Appl im Halbrund des Fensters im Turm, der Blick nach draussen zeigt Schnee und Felsen und am Himmel zieht eine Dohle ihre Kreise. Appl singt dazu das Lied von der Krähe … wunderschön. Man kann nur hoffen, dass die Dohle auch bei der zweiten oder dritten Drehsequenz noch mitgemacht hat …
Manches in den Liedern hat mit Abschiednehmen zu tun, mit Tod und Trauer. «Natürlich gibt es in dieser ‘Winterreise’ Lieder mit Gefühlen, die ich nicht so kenne. Also eine Todessehnsucht in dieser Art habe ich nicht. Aber als Musiker, und gerade als Sänger ist es sehr wichtig, klare Vorstellungen von den Emotionen zu haben und sich an Momente im Leben zu erinnern, die diesem Gefühl von Todessehnsucht sehr nahekommen. Spannend ist es auch, wenn man sich nach einem Konzert mit Menschen unterhält, von denen einer sagt, während dieses Liedes habe ich an den Tod meines Grossvaters gedacht, und eine andere erinnert sich an den Streit mit ihrer Schwester.»
Wie in der Arktis
Die Wetterverhältnisse waren eine besondere Herausforderung. Selbst als der Schnee horizontal daherkam, wurde im Freien gedreht. Wie in der Arktis sei es gewesen, meint der Regisseur. Alles weiss, viel Schnee und weit und breit niemand zu sehen. Auch unter solchen Verhältnissen hat Appl draussen gesungen, was nicht nur für ihn, sondern auch für das Mikrophon und die technische Crew nicht ganz einfach war. Haben sich Höhe und das extreme Wetter auch auf seine Stimme ausgewirkt? «Weniger als ich dachte», sagt Appl. «Man muss öfter atmen, dafür schlafe ich besser in der frischen Luft. Aber am Abend ist man geschafft … Da war dieser wahnsinnige Windsturm über dem Julier. Alles, was man im Bild sehen wird, ist live gesungen! Ich wandere und habe nur ein Mikrophon. Oder dieser Schneesturm! Mein Gesicht war voller Schnee und auch die Haare weiss. Wie in der Arktis!»
Über den Ort hat Benjamin Appl sich auch seine Gedanken gemacht. «Ich habe lange mit Giovanni Netzer, dem Leiter von ‘Origen’ darüber gesprochen. Es ist ein Ort, wo die Leute durchreisen, wo man nicht Halt macht, es ist ein wüster Ort, der sehr besondere Gefühle auslöst. Speziell auch zu Musik und Text der ‘Winterreise’. Ich hatte ein langes Gespräch mit Giovanni, bei Sonnenuntergang, hier im Turm. Anschliessend sassen wir hier und haben nur geschwiegen. Der Ort hat eine unheimliche Kraft und positive Energie. Und gleichzeitig etwas Abstossendes und Dunkles. Das sind die zwei Pole hier …»
Neuer Blick auf die «Winterreise»
Jetzt, ein Jahr später, und kurz bevor der Film an Weihnachten im Schweizer Fernsehen SRF gezeigt wird, frage ich Benjamin Appl, ob die Erfahrungen, die er bei den Dreharbeiten auf dem Julier, mit dem extremen Wetter und in der archaischen Landschaft gemacht hat, auch seine Beziehung zu Schuberts «Winterreise» beeinflusst hat. «Auf alle Fälle!», betont er. «Gerade bei der ‘Winterreise’ müssen wir Musiker uns immer wieder in Frage stellen und uns weiterentwickeln. Dazu müssen wir ständig unseren Horizont erweitern, neue Erfahrungen gewinnen oder unsere Vorstellungskräfte anregen. Die Eindrücke im Rahmen dieses Films stellen mir oft klare Bilder vor Augen, die Emotionen werden gefördert und konkrete Erinnerungen tun sich an einzelnen Stellen auf, die mir in jeder Aufführung dieses Zyklus seitdem immer wieder präsent sind. Ich denke, meine Erzählung wurde dadurch konkreter und nahbarer, hoffentlich auch spürbar für das Publikum.»
Und noch was … Ende des Jahres tritt Benjamin Appl in einem Silvester- beziehungsweise Neujahrs-Konzert in Luzern und in Zürich auf. Windgeschützt und schneegeschützt mit Liedern von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart.
Silvesterkonzert mit Benjamin Appl:
Luzern, 31.12.2022 im KKL
Neujahrskonzert Zürich,
01.01.2023 in der Tonhalle
«Die Winterreise», Fernsehfilm mit Benjamin Appl
26. Dezember, SRF1 18:10 Uhr