Im Frühsommer 2012 überstieg die Siedlerbevölkerung in der Westbank erstmals die Grenze von 350.000, hinzu kamen 300.000 in Ost-Jerusalem. Die staatlichen Investitionen – die Ausgaben für die militärische Sicherheit nicht eingerechnet – beliefen sich im vergangenen Jahr auf 1,2 Milliarden Neue Shekel (rund 250 Millionen Euro).
Die gerechtfertigte Aufmerksamkeit auf die drohende israelisch-iranische Konfrontation und auf den blutigen Bürgerkrieg in Syrien steht der Einsicht im Wege, dass das Überleben Israels von der politischen und sozialen Stabilität in der arabischen Nachbarschaft abhängt. Doch während in Europa und in Amerika harte Sanktionen gegen den Iran und Syrien greifen, haben die Europäer – und ungeachtet der ärgerlichen Telefonate der deutschen Bundeskanzlerin mit dem Jerusalemer Regierungschef seit Anfang 2011 – mit Israel die weitere Vertiefung der Beziehungen vereinbart.
Für Diplomaten und Wissenschaftler in Washington lief die rücksichtslose Solidarität mit Israel auf einen strategischen Eskapismus hinaus, der sich für diesen Staat als lebensgefährlich erweisen könne. Für sie bot sich eine Politik ohne einen Gesandten eher an als ein Gesandter ohne Politik. „Nie hatten wir einen ehrlichen Gedankenaustausch mit den Israelis“, klagte Aaron David Miller nach 25 Jahre langer Tätigkeit im State Department. Von dem amerikanischen Philosophen George Santayana (1863 – 1952) ist die Bemerkung überliefert, dass technische Anstrengungen verdoppelt werden, wenn die Ziele aus dem Auge geraten. Der Widerspruch zwischen den massiven Dienstleistungen für die Autonomieregierung und fehlender politischer Führung ist einschlägig.
Verfehlte Differenzierungen
So wie die hierzulande übliche Unterscheidung zwischen einem säkularen und einem religiösen Nahen Osten nicht trägt, ist für den israelisch-palästinensischen Konflikt die Behauptung abwegig, dass die große Mehrheit auf beiden Seiten einen Frieden mit einer Zweistaatenregelung auf den Linien vor 1967 wünscht. Unter den Palästinensern gewinnt der Rückgriff auf die „Nakba“ als politisches Narrativ an Boden, in Israel hat sich konzentrierter noch als im islamischen Raum eine normative Dualität aus Religion und Staat durchgesetzt. Wünsche nach der „Herrschaft der Torah“ fanden in der zwischen Verheißung und Fluch changierenden Prophetie vom „Volk, das allein wohnt“ (Gen. 23,9) ihren biblischen und in den „Trennungsmauern“ ihren realpolitischen Ausdruck.
„Sicherheit“ als militärisch-strategisches Konzept ging eine Synthese mit sakralen Faktoren ein. Der Quietismus der rabbinischen Theologie – nach den Worten des Jerusalemer Historikers Jakob Katz das „Prinzip der Passivität“ – wurde als sklavenhafte Bibelfrömmigkeit vom Drängen auf die Erlösung in geschichtlich-messianischer Zeit abgelöst. An die Stelle des politischen Friedens trat der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft. Dass der deutsche Bundespräsident aus Anlass seines Staatsbesuchs in Israel die Vollkommenheit in der Politik pries, „theologisch gesprochen, de[m] Schalom“ huldigte, dürfte mit Wohlwollen aufgenommen worden sein.
Nach den Worten des früheren Außenministers Shlomo Ben-Ami wurde nach 1967 der Zionismus gefährlich neu definiert, eine „Vernarrtheit“ in die eroberten Territorien griff Platz. Das Grundgesetz „Menschliche Würde und Freiheit“ von 1992 stellte den Charakter Israels als „jüdischen und demokratischen Staat“ heraus, wobei „jüdisch“ nicht nur eine demographische Verpflichtung meinte, sondern religiöse Grundlagen für das Gemeinwesen festschreiben wollte.
Bei Völkerrechtlern von Yehuda Z. Blum über Yoram Dinstein und Meir Shamgar bis Meir Rosenne hatte der Souveränitätsanspruch zwischen Mittelmeer und Jordan frühzeitig schöpferische exegetische Fahrt aufgenommen. Kein anderer Staat könne einen besseren Rechtstitel auf Judäa und Samaria als Israel aufweisen, schrieben sie, zumal sich mit dem Sieg im Junikrieg die „Waagschalen durch das Schwert in Bewegung gesetzt“ hatten. Das internationale Recht sei nicht mehr als „eine komplexe intellektuelle Konstruktion“, die sich anmaße, ohne engsten Kontakt zur Realität zu operieren. Israels Staatsräson folgt einem anderen Kompass, als er Angela Merkel bewusst ist.
Jenseits der staatspolitischen Krise
Elf Jahre nach der Ermordung Yitzhak Rabins schrieb David Grossman zwischen Stolz und Verzweiflung, dass für ihn trotz aller religiösen Glaubensferne die Schaffung und die Existenz Israels für das jüdische Volk ein politisches, nationales und menschliches Wunder seien.
Doch trotz des nationalen Selbstbewusstseins, das sich auf die militärische Überlegenheit beruft, hat ein erheblicher Teil der Bevölkerung das Vertrauen in die Politik verloren. Den Friedensgruppen fehlt, abgesehen von ihrer politischen Zerrissenheit, die aktive zweite und dritte Generation. Unter den Palästinensern scheitert die Friedenspädagogik an der Gewalt der Siedler und des Militärs, an Bodenenteignungen, an den Checkpoints und an der Verwüstung von Brunnen und Nutzflächen. Der Dauerstreit zwischen Ramallah und Gaza beschädigt die politische Glaubwürdigkeit des palästinensischen Anliegens im Ausland.
Würde die internationale Diplomatie die grundlegenden Erhebungen von Dror Etkes bis Eyal Weizman ernst nehmen, müsste sie als erste Konsequenz ihre Illusion über Bord werfen, dass die israelische Transformation der palästinensischen Gebiete umkehrbar sei. In einem zweiten Schritt würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als sich mit neuen Narrativen unter Israelis und Palästinensern zu beschäftigen, die im 21. Jahrhundert nicht auf einen gemeinsamen Staat verschiedener Ethnien und Kulturen hinauslaufen werden.
Wenn in und für Israel und für Palästina überhaupt noch politische Hoffnungen gerechtfertigt erscheinen, dürfte die Zukunft zwei teilsouveränen Gemeinschaften in Struktur und Prozess mit konstitutionell verankerten nationalen und kulturellen Garantien für die jüdischen Siedler in der Westbank und für die arabischen Staatsbürger Israels gehören. Sie wäre auch ein Modell für die unter die Räder des Umbruchs geratenen arabischen Nachbarstaaten.