Das Bild von der ‚Armutsfalle‘ ist für Indien ein Dauerthema. Sechsundsechzig Jahre ist es nun der Meister seines eigenen Schicksals, gesegnet mit natürlichen und intellektuellen Ressourcen, ausgestattet mit stabilen demokratischen Institutionen. Dennoch scheint das Land unfähig, sich aus seiner Armut zu befreien. Zwar weist die Regierung darauf hin, dass die ‚Armutsgrenze‘ inzwischen auf 22 Prozent gesunken ist. Aber wenn man die Definition dieser Armutsgrenze überprüft, wird rasch klar, dass sie mit ‚Armen‘ jene Menschen meint, die aus eigener Kraft physisch nicht überleben können – als befänden sich alle über dieser ‚Poverty Line‘ in wirtschaftlicher Sicherheit.
In Wahrheit ist die Messlatte so tief angesetzt – ein Einkommen von 50 Rappen pro Tag und Person –, dass selbst das Doppelte davon im heutigen Indien nicht einmal den minimalen täglichen Kalorienkonsum garantiert, und schon gar nicht alle anderen Kosten von Behausung, Erziehung und Gesundheit. Die Regierung straft sich mit seiner Statistik selber Lügen, denn gleichzeitig bereitet sie ein Gesetz vor, das allen Armen des Landes gratis Grundnahrungsmittel garantiert. Die Zahl der so Beglückten: 65 Prozent der Bevölkerung.
150 Anti-Armutsprogramme
Es sind Massnahmen wie dieses ‚Food Security‘-Gesetz, die Ökonomen von der ständigen Gefahr einer ‚Armutsfalle‘ sprechen lassen. Die meisten der über 150 Anti-Armutsprogramme sind nicht nur voller Lecke und die Quelle einer gigantischen Korruption; sie sind zudem nichts als Palliativmittel gegen die Schwindsucht der Armut, die sich nur mit gezielten produktiven Investitionen zur Förderung menschlicher und natürlicher Fähigkeiten beheben lässt.
Die geringe wirtschaftliche Produktivität dieser Programme steigert das Risiko von Geldentwertung und Teuerung, die die Armen hart treffen, während die Reichen sich ihr entziehen, indem sie ihr Geld in unproduktiven Gütern parken, um es vor Steuern zu schützen. Der Schweizer Urbanist Matias Echanove schrieb kürzlich in der ‚International Herald Tribune‘, in Bombay, einer der dichtestbevölkerten Städte der Welt, stünden fast eine halbe Million Wohnungen leer. Statt mit steuerlichen Anreizen und rechtlichen Besitzgarantien Wohnraum schafft, zieht es der Staat vor, die 1600 Slums mehr schlecht als recht mit Notrationen zu versorgen.
Zweitwohnungsbau
Ich wollte an dieser Stelle eigentlich dieser Negativspirale der indischen Armutspolitik weiter nachgehen. Doch ich las den Artikel in den Ferien im Goms, kurz nach einem abendlichen Spaziergang. Er hatte mich durch eine jener Siedlungen geführt, die heute die Ferien-Schweiz bevölkern. 87 Postfächer standen am Eingang des Feriendorfs ‚Brunnen‘, doch nur drei Familien wohnen immer dort. Die restlichen gleichen einem der Chalets, an dem ich vorbeikam. Es hiess akkurat ‚Voilà‘, denn es demonstrierte mit seinen geschlossenen Läden, der abgeketteten Zufahrt, dem Wildwuchs hinter dem Gartentor den Ist-Zustand unserer gebauten Landestopografie.
Das Thema des Zweitwohnungsbaus in der Schweiz ist mit der Verfassungsinitiative von Franz Weber inzwischen so umfassend durchgehechelt worden, dass seine Erwähnung heute kaum noch wahrgenommen wird. Auch ich mochte ihm nichts Neues abgewinnen, bis ich in der ‚Herald Tribune‘ auf die Zahl leer stehender Wohnungen in meinem indischen Wohnort stiess. Plötzlich tauchten Parallelen auf. Waren die beiden Fälle und Länder nicht ähnlich gelagert, mit dem einzigen Unterschied, dass im Fall von Bombay die leer stehenden Wohnungen ein Symptom der Armutsfalle darstellen – die Verstetigung der Armut durch eine gutgemeinte und kontraproduktive Wirtschaftspolitik –, während die Zweitwohnungen in der Schweiz eher das Gespenst einer Reichtumsfalle heraufbeschwören.
**“Schau mal, ein Mensch!“
Ich hatte das Phänomen der Zweitwohnungen bisher in der ökologischen Sichtweise der Verbauung der Landschaft gesehen und weniger in seinen sozialen und ökonomischen Folgen: Wir wissen nicht mehr wohin mit unserem Reichtum (auch Luxuskonsum und Sparen haben ihre quasi-natürlichen Grenzen), und so schaffen wir Werte in Form von Grundeigentum, die uns zwar teuer zu stehen kommen, die aber durch die so geschaffene Verknappung von Lebensraum ihren Marktwert ständig steigern.
Dass dies nicht nur Gewinner produziert, sondern auch Opfer: Nirgends wird dies so einsichtig wie im Engadin. Denn nirgends in der Schweiz ist die Reichtumsfalle so nahe am Zuschnappen wie in diesem wohl schönsten europäischen Hochtal, weil gemäss der Logik unserer Warengesellschaft Schönheit eben ihren Preis hat. Ich durfte einige Tage in der Ferienwohnung von Freunden wohnen, in einem von fünf modernen Häuserblocks im ‚Engadiner-Stil‘ am Rand von Champfér. Ausser uns – zwei Paaren – erblickte ich in den fünf Tagen nur einen älteren Herrn auf einem Nachbarbalkon, und die Entdeckung war so unerwartet, dass ich unserer Gastgeberin unwillkürlich zurief ‚Schau mal – ein Mensch!‘
Keine Drogerie mehr
Richtig bewusst wurde mir die gähnende Leere der Oberengadiner Dörfer erst, als wir an einem Nachmittag in Silvaplana auf den Bus warteten. Wir kamen mit der Frau im ‚Ticket Office‘ ins Gespräch. Auf die Frage nach einer Drogerie antwortete Maggie Thommen, in Silvaplana gebe es keine mehr; niemand könne sich die Miete für eine Geschäftsräumlichkeit noch leisten. Überhaupt gebe es von Champfér bis Maloja keine einzige Apotheke mehr - man müsse dafür nach St.Moritz fahren. Ähnlich sei es mit Wohnraum. Noch siebenhundert Menschen lebten das ganze Jahr in Silvaplana, bei Wohnraum für siebentausend.
Dorfleben? fragten wir. „Woher denn, wenn sich die meisten jungen Ehepaare die Mieten nicht mehr leisten können; sie ziehen ins Unterland.“ Derweil werden immer mehr Dienstleistungen von Ausländern erbracht, die immer längere Anfahrtswege auf sich nehmen müssen, um sich noch eine Mietwohnung leisten zu können. Thommen erzählte von einer Angestellten im Restaurant Corvatsch, die jeden Tag von Chiavenna (auf 200 M.ü.M) zum Corvatsch (auf über 3000 M.ü.M) zur Arbeit und abends wieder zurückfährt; Wegzeit: vier Stunden, vorbei an Hunderten leerer Wohnungen.
“Es tötelet“
Auch im ‚Unterland‘ verstärken sich die Symptome unserer Reichtumspathologie, und gerade die reichen Gemeinden sind dagegen nicht gefeit. In Rüschlikon erzählt mir eine befreundete Frau – ehemalige Gemeindepräsidentin – dass immer mehr Alteingesessene das Dorf verlassen müssen, weil nach der Sanierung alten Wohnraums die neuen Mieten nicht mehr zu bezahlen seien. Derweil ziehen immer mehr reiche Ausländer ins Dorf. Sie arbeiten in Zürich, ihre Kinder schicken sie in die ‚International School‘ im Nachbardorf, ihre sozialen Netze spannen sie über das gesamte Seebecken. Für kommunale Angelegenheiten interessieren sie sich kaum. Bestenfalls finanziert ein russischer Zuzüger ein paar super-luxuriöse Bushaltestellen. Ein wichtiger Grund für Gemeindefusionen, sagte meine Gesprächspartnerin, sei die verzweifelte Suche nach Bürgern, die sich noch für ein öffentliches Amt zur Verfügung stellen. „Kilchberg mit seinen 7500 Einwohnern findet keinen Gemeindepräsidenten.“
Im Unterland erkennt man auch, dass der vielgeplagte Begriff ‚Zweitwohnung‘ nicht auf die Tourismusregionen beschränkt bleibt. Er ist zudem, so meinte der ‚Stadtwanderer‘ Benedikt Loderer kürzlich im ‚NZZ-Folio‘, ein Euphemismus, denn inzwischen hätten viele Schweizer eine Dritt- oder gar Viertwohnung. Man müsse nur in die gähnende Leere eines Treppenhauses eintreten, um zu spüren, wie viele Wohnungen nur teilzeitlich bewohnt sind. Loderer hatte für die Stille dort einen boshaften Ausdruck parat: „Es tötelet“.