Morgen beginnt eine entscheidende EU-Gipfeltagung. Dabei geht es auch um die Verabschiedung des EU-Budgets und ein grosses Corona-Hilfspaket. Polen und Ungarn haben bereits im Vorfeld ein Veto ausgesprochen. Sie wollen damit erzwingen, dass die EU einen Beschluss zurücknimmt. Dieser sieht vor, dass Zahlungen gekürzt werden können, wenn die rechtsstaatlichen Verhältnisse ungenügend sind und damit auch keine angemessene Verwendung von EU-Geldern gewährleistet ist.
Das Veto – ein Verlustgeschäft
Das Veto ist in Polen heftig umstritten. Eine Umfrage hat vor kurzem gezeigt, dass eine deutliche Mehrheit von rund zwei Dritteln das Veto ablehnt. Fast die gesamte Opposition hat entschieden dagegen Stellung bezogen. Und die wichtigste Unternehmerverbindung hat ebenfalls Alarm geschlagen. Selbst im Regierungslager sind die Meinungen nicht einheitlich. Ein kleiner Koalitionspartner möchte, dass das Veto zurückgezogen wird, wenn die EU Präzisierungen vornimmt. Diese sollten den etwas schwammig formulierten Zusammenhang von EU Geldern mit rechtsstaatlichen Prinzipien klarer zum Ausdruck bringen. Vizepremier Jaroslaw Gowin war deswegen letzten Donnerstag extra nach Brüssel gereist.
Für Polen steht einiges auf dem Spiel. Wird keine Einigung erzielt, könnte Polen 27 Milliarden Euro Hilfsgelder und 32 Milliarden günstige Kredite aus dem Corona Hilfspaket verlieren. Denn der EU scheint es ernst zu sein, ein alternatives Corona-Hilfspaket unter Umgehung der Vetomöglichkeit zu schnüren. Bei einem Veto würde auch für 2021 ein provisorisches Budget in Kraft treten, das Polen insgesamt schlechtere Bedingungen bescherte.
Hintergründe des Vetos
Es stellt sich die Frage: Warum hat Polens Regierung beziehungsweise Jaroslaw Kaczynski, der Chef der rechtskonservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit) und eigentliche Strippenzieher, überhaupt das Veto eingelegt? Es kommen verschiedene Hypothesen in Betracht. Obwohl Kaczynski in letzter Zeit nicht gerade als gewiefter Taktiker geglänzt hat, dürfte er kaum damit gerechnet haben, mit einer simplen Vetodrohung die EU zum Einlenken bewegen zu können. Wahrscheinlicher ist, dass er mit seinem Kurs Punkte holen wollte und als Verteidiger der nationalen Souveränität sein angeschlagenes Image aufbessern wollte, vor allem im eigenen Lager. Denn der zweite kleine Koalitionspartner, die Gruppierung vom stärker rechtsstehenden Justizminister Zbigniew Ziobro, machte mächtig Druck für ein Veto.
In letzter Zeit sind nicht nur Kaczynskis Popularitätswerte deutlich gesunken. Ein aktuelle Umfrage hat auch ergeben, dass 80 Prozent die Meinung teilten, dass Kaczynski sich aus der Politik zurückziehen sollte. Besonders brisant war dabei, dass sogar über 40 Prozent der PiS-Wähler diese Ansicht unterstützten. Dass Kaczynski und Orban an ihrem Veto festhalten, ist zwar nicht auszuschliessen, aber nicht sehr wahrscheinlich. Eher anzunehmen ist, dass die beiden sich mit weitgehend symbolischen „Zugeständnissen“ zufrieden geben werden, die sich zu Hause bei ihren Anhängern halbwegs als Erfolg verkaufen lassen.
EU wichtig für Polen
Dass Kaczynski mit einem Veto sogar den Anfang eines EU-Austrittes anvisiert, wie einige Beobachter und Oppositionelle vermuten, scheint mir wenig glaubwürdig. Seine sehr kritische Haltung gegenüber der gegenwärtigen EU, seine Nostalgie für ein christliches Europa der Vaterländer sind zwar bekannt, aber ein Austritt würde enorme materielle Einbussen bedeuten und das ohnehin schon geschwächte Regierungslager auseinander fallen lassen. Falls die EU weiterhin einigermassen funktioniert, würde ein Polexit politischen Selbstmord bedeuten. Polen ist nicht Grossbritannien.
Eine aktuelle Umfrage ergab, dass nur 7 Prozent einen EU-Austritt wünschten. Seit langer Zeit unterstützten in Umfragen rund vier Fünftel die Mitgliedschaft Polens in der EU. Polen hat auch seit dem Beitritt von 2004 enorm profitiert. Dabei waren nicht nur direkte Subventionen wichtig. So betrugen die Nettozahlungen aus dem EU Haushalt 2018 immerhin gut 12 Milliarden Euro. Noch bedeutsamer ist die wirtschaftliche Integration Polens. So gehen rund 80 Prozent der Exporte in die EU, rund 70 Prozent der Importe stammen aus der EU. Viele Polen arbeiten auch für kürzere oder längere Zeit in EU-Ländern. Ein Austritt würde enorme wirtschaftliche Turbulenzen bedeuten.
Selbst die Gruppierung von Justizminister Ziobro geht nicht so weit, einen Austritt aus der EU anzupeilen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass es wegen des aktuellen Vetos zu einem erneuten ernsthaften Zerwürfnis im Regierungslager kommt. Zu frisch dürfte noch die Erinnerung an die letzte nur mühsam bewältigte Krise vom September sein (Journal 21, 02.10.2020). Obwohl die Parteigänger von Ziobro den martialischen Slogan „weto albo smierc“ (Veto oder Tod) propagierten, dürfte dieser kaum erneut auf totalen Konfrontationskurs gehen, wenn das Veto gegen ein symbolisches „Entgelt“ fallen gelassen wird.
Abtreibungsfrage nicht vom Tisch
Das Regierungslager leidet auch immer noch unter dem Popularitätsverlust, den das praktische Abtreibungsverbot des PiS- kontrollierten Verfassungsgerichtes ausgelöst hat. Nur bei Vergewaltigungen, Inzest und einer Lebensbedrohung der Mutter sind Abtreibungen noch erlaubt (Journal21, 26.10.2020). Die Massendemonstrationen haben trotz Corona-bedingtem Demonstrationsverbot lange Zeit angehalten. Auf dem Höhepunkt beteiligten sich allein in Warschau gegen 100’000 Menschen, vorwiegend jüngere Frauen am Protest.
In den vergangenen zwei bis drei Wochen sind die Demonstrationen allerdings seltener und deutlich kleiner geworden. Die Polizei hat stärker interveniert. Die Teilnehmenden wurden oft eingekesselt und registriert. Teilweise hat die Polizei auch mit Schlagstöcken und Tränengas eingegriffen. Dabei kamen vereinzelt Abgeordnete zu Schaden. Einer populären oppositionellen Parlamentarierin wurde beispielsweise von einem Polizisten Tränengas ins Gesicht gesprüht. Ein Video wurde umgehend ins Netz gestellt. Die harte Gangart mag einige abgeschreckt haben. Sie hat hat aber auch zu einem weitern Vertrauensverlust des Regierungslagers geführt.
Wie geht es weiter
Bis jetzt ist das Urteil des Verfassungsgerichtes immer noch nicht umgesetzt worden. Offiziell lautete die Begründung, man wolle die ausführliche Begründung abwarten. Damit hofft man wohl, das Urteil etwas abgeschwächt in ein Gesetz umformen zu können. In PiS-Kreisen kursierte denn auch die Version, dass eine Abtreibung von Föten ohne Lebenschancen doch noch erlaubt werden könnte. Eine ähnliche Stossrichtung hatte auch Präsident Andrzej Duda vorgeschlagen.
Selbst wenn ein solches Gesetz erlassen werden sollte, würde das der Mehrheitsmeinung nicht gerecht. Rund zwei Drittel waren nämlich in einer Umfrage der Meinung, dass auch eine Abtreibung von Föten mit Down-Syndrom möglich sein sollte. Allerdings waren weniger als ein Viertel für eine Freigabe der Abtreibung aus sozialen Gründen. Auch die Opposition tut sich schwer mit einer klaren Stossrichtung. Für eine Fristenlösung machten sich nur wenige Politiker stark, obwohl das bei den Demonstrationen oft gefordert worden war.
Auswirkungen auf die Politszene
Die PiS hat deutlich an Sympathien eingebüsst. In den letzten Umfragen kam sie meist nur auf rund 30 Prozent der Wählerstimmen. Bei den letzten Wahlen vom Oktober 2019 hatte sie noch 45 Prozent erreicht. Dazu haben sicherlich auch die ungenügenden Angebote des Gesundheitssystems für Corona-Patienten beigetragen. Die ergriffenen relativ harten Massnahmen gegen die zweite Welle scheinen nun allerdings Wirkung zu zeigen. Die Neuansteckungen sind massiv zurückgegangen. Auch die Wirtschaft wird wohl dieses Jahr mit einem blauen Auge davonkommen. Die OECD-Prognose für das Bruttoinlandsprodukt geht von einem Minus von 3,5 Prozent aus, einem europaweit sehr guten Ergebnis.
Wie weit sich die PiS von ihrem Tief erholen kann, ist heute noch nicht abschätzbar. Zu viele Faktoren spielen hier eine Rolle. Und die nächsten nationalen Wahlen, die Parlamentswahlen, sind erst in drei Jahren. Sicher scheint nur, dass es die PiS bei diesen Wahlen schwerer haben dürfte. Im letzten halben Jahr hat sie viel an Vertrauen eingebüsst.