Die Freilassung von Julian Assange hat widersprüchliche Reaktionen ausgelöst. Gottseidank ist der Horror für den Langzeit-Gefangenen endlich vorbei, lautet breitflächig der Konsens in den internationalen Medien. Der «Guardian» aber weist auch auf eine problematische Folge der Bedingungen hin, die Assange als Preis für die Freiheit bezahlen musste: auf das Geständnis, dass er Gesetze übertreten habe.
Das Geständnis betrifft den US-amerikanischen «Espionage Act». Der «Guardian» zitiert in diesem Zusammenhang ein Statement des Direktors von FPF (Freedom of Press Foundation): Assanges Geständnis könne dazu führen, dass in Zukunft Medienleute, die Dokumente aus nicht-offiziellen Quellen zugespielt erhielten, mit Strafverfolgung rechnen müssten. Und dass es deshalb schwieriger werde, Machtmissbrauch durch Regierungen aufzudecken.
Wo Obrigkeiten einschreiten
Durch Wikileaks wurden Fakten aufgedeckt, die für die Öffentlichkeit von Interesse sind (Folter in dem von US-Militärs geführten Gefängnis Abu Ghraib in Irak etwa, oder Willkür im Irak-Krieg). Für die Regierung der Vereinigten Staaten war das peinlich. Sie ging daher sogleich von einer Verteidigungs- in eine Anklageposition über: Die Medien seien zu mächtig geworden, mächtiger als die staatliche Obrigkeit.
Tatsache ist: Die Regierungen sitzen mehrheitlich am längeren Hebel als die Medienleute. Israel beispielsweise verhindert, seit fast schon neun Monaten, jegliche unabhängige Berichterstattung aus dem Gaza-Streifen; Russland schüchtert Journalisten konsequent ein (ausgerechnet am Tag, da Julian Assange das Gefängnis in London verlassen konnte, begann in Russland der Prozess gegen den US-amerikanischen Korrespondenten Evan Gershkovich wegen angeblicher Spionage); Chinas Regime versucht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, Recherchen über die Repression der Uiguren zu verhindern.
Theorie und Praxis der Medienfreiheit
Der Fall Assange verweist auf ein tiefsitzendes Problem, nämlich darauf, dass Journalisten kein Mandat für ihr Tun und Lassen haben. Mindestens in freien Gesellschaften werden sie von keinem politischen Gremium gewählt (in autoritären Staaten ist es anders – da bestimmen Regierungsinstanzen mindestens den Chefredaktor, handle es sich nun um eine Zeitung oder ein elektronisches Medium). Sie können sich auf die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» der Vereinten Nationen vom Dezember 1948 berufen: «Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten zu vertreten sowie Informationen und Ideen mit allen Kommunikationsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.»
Das ist die Theorie – in der Praxis werden die Medienleute, auch in den freien Gesellschaften, verpflichtet, landesinterne Gesetze zu beachten. In der Schweiz, beispielsweise, verhindert ein Artikel im Bankengesetz, dass die Pressefreiheit bei Fragen zum Finanzplatz garantiert ist (ein Journalist, der dagegen verstösst, kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden). Diese Einschränkung war es, die der Schweiz auf der Skala der Medienfreiheit den Platz neun zuwies – nicht schlecht im globalen Rating (viel besser beispielsweise als Deutschland, Platz 24), aber doch etwas abgeschlagen gegen die Skandinavier, die am besten abschnitten.
Was sagt uns in diesem Zusammenhang der Fall von Julian Assange? Der Whistleblower lehnt gesetzliche Kontrollen prinzipiell ab – er plädiert dafür, dass die Medien (alle, nicht nur die sogenannt sozialen) ungefiltert alles verbreiten sollten, was sie selbst für wesentlich erachten.
Berechtigte und fragwürdige Enthüllungen
Bei vielen Wikileaks-Enthüllungen gab es zweifellos ein berechtigtes öffentliches Interesse – so erhielten wir alle Einblicke in die Realitäten des von Nato-Staaten praktizierten Drohnenkriegs in Afghanistan, und, wie bereits erwähnt, in Folter in dem von US-Einheiten verwalteten Abu-Ghraib-Gefängnis in Irak.
Aber entsprach dann auch die Veröffentlichung von tausenden E-mails der damaligen US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton einem breitflächigen Interesse? Oder hatte Julian Assange sich nun vom Kreml instrumentalisieren lassen, der daran interessiert war, dass Donald Trump die Wahlen gewinnen sollte?
Da gab es Zweifel. Sie sollten uns Normal-Journalisten zur Frage führen: Was hätten denn wir getan, wären wir in den Besitz solch heisser Ware gekommen?
Spontan-Antwort: Wir hätten erst mal Hillary Clinton damit konfrontiert, also zumindest versucht, auch die «Angeklagte» zu Wort kommen zu lassen. An so was war Assange nicht interessiert – er handelte nach seiner eigenen Devise: Raus mit allem, was ich in Händen habe.
Welche Grenzen für Social Media?
Als Julian Assange seine Dossiers der Öffentlichkeit zugänglich machte, also vor rund fünfzehn Jahren, befanden sich die meisten Social Media noch in den Kinderschuhen. In der Zwischenzeit haben sie sich nicht nur emanzipiert, sondern sind förmlich explodiert. So sehr, dass sich jetzt mehr und mehr und international die Meinung durchsetzt, man müsse einem ungebremsten Wildwuchs Grenzen setzen.
Aber wie? Man formuliert Gesetze, mit dem Ziel, Attacken gegen irgendwelche Personen zu verbieten, Lügen zu verbreiten, der so genannten Fake-News-Unkultur entgegen zu treten. Die Gesetzgeber werden allerdings schon wieder überrundet durch die Innovationen im Bereich der künstlichen Intelligenz, die u. a. dazu führen, dass Medien-Konsumentinnen und -Konsumenten bereits verunsichert sind beim Betrachten eines Fotos: Ist es echt oder manipuliert? Oft ist’s wohl so: Bis Klarheit darüber herrscht, dass es wirklich manipuliert worden ist, wurde es schon so viele hunderttausend Mal geklickt, dass fast niemand mehr eine Klarstellung beachtet.
Zweierlei Realitäten
Das ist die heutige Realität. Julian Assange stand mit Wikileaks und seiner Überzeugung, der Informationsfluss dürfe unter keinen Umständen eingeschränkt werden, am Anfang dieser Entwicklung. Sie ist gekennzeichnet durch zwei entgegengesetzte Trends: Die Social Media explodieren förmlich, viele Regierungen anderseits sind entschlossen, eine freie Berichterstattung (Beispiel: Israel im Gaza-Krieg) zu blockieren.