In diesen Tagen und Wochen feiern viele evangelisch-reformierte Kirchen den 31. Oktober des Jahres 1517, als Martin Luther seine 95 provokativen Thesen zu Veränderung der Kirche und vor allem gegen den Ablasshandel des katholischen Klerus proklamierte. Ob er, wie überliefert, seine Thesen eigenhändig an die Holztore der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, ist historisch umstritten. So oder so hatte sein Protest Folgen. Noch 500 Jahre später feiern die Reformierten den Aufstand – und suchen nach einer neuen, zukunftsträchtigen Reformation.
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Tausende von Menschen versammelten sich am Wochenende auf dem Bundesplatz, um das Fest «Vision Kirche 21» der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn zu feiern. Ein «Chor der 1000 Stimmen» gab ein klanggewaltiges Konzert, während der Kabarettist Massimo Rocchi gar seine Auftrittspause unterbrach, um in einem eigenen «Wort zum Sonntag» sich seiner ersten Eindrücke zu Kirche und Bibel mit Kinderaugen zu erinnern: «Fiat Lux hat mich beeindruckt, war damit doch wohl ein besseres Modell als unser eigener Fiat 500 gemeint.» Glaube sei wichtig im Leben, es müsse nicht immer alles belegt und bewiesen werden. «Mir wei nid grüble» gehört bekanntlich zu Rocchis Stehsätzen.
Eine Vorbereitungsgruppe von gegen 300 Teilnehmenden hat während Monaten nach Formulierungen gesucht und um moderne Reformations-Inhalte gerungen. Am Anlass «Vision Kirche 21» wurden die gegensätzlichen, jedoch sich ergänzenden Begriffspaare erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt:
- Von Gott bewegt – den Menschen verpflichtet
- Auf die Bibel hören – nach Menschen fragen
- Vielfältig glauben – Profil zeigen
- Offen für alle – solidarisch mit den Leidenden
- Die Einzelnen stärken – Gemeinschaft suchen
- Bewährtes pflegen – Räume öffnen
- Vor Ort präsent – die Welt im Blick
- Die Gegenwart gestalten – auf Gottes Zukunft setzen
Vor kurzem äusserte sich der Präsident des reformierten Synodalrats Bern-Jura-Solothurn (Exekutive), Andreas Zeller, in einem Interview recht kämpferisch: «Die Kirche verändert sich, ist aktiver, selbstbewusster geworden. Die uns anerzogene reformierte Bescheidenheit müssen wir ablegen und lernen, uns besser zu verkaufen.»
Zurück zum Menschen Jesus
Nicht alle engagierten Christen finden, dass die erwähnten Thesen griffig genug sind. In seinem kürzlich erschienenen Buch «Die Kirche kann sich das Leben nehmen – Zehn Thesen nach 500 Jahren Reformation»* geht Josef Hochstrasser wesentlich härter zur Sache. Nach seinem Studium in Philosophie und Theologie wurde Hochstrasser römisch-katholischer Priester. Nach seiner Heirat erhielt er vom Bischof Berufsverbot, trat aus der Kirche aus und wurde Hilfsarbeiter in einer Fabrik. Nach erneutem Studium – diesmal an der evangelisch-reformierten Fakultät der Universität Bern – wurde er zum reformierten Pfarrer ordiniert. Später war er als Lehrer für Religion und Weltreligionen an der Kantonsschule Zug tätig.
Seine Reformationsvorschläge präsentiert er symbolisch in zehn Geboten und stellt dabei die Person und Figur von Jesus Christus ins Zentrum. So heisst es im ersten Gebot: «Weg von der Ikone, zurück zum Menschen Jesus». Mit dem Humanisten Jesus von Nazareth verfüge die Christenheit über «eine starke Trumpfkarte».
Konfessionelle Trennungen überwinden
Jesus habe sich nicht abgeschottet, er habe mitten unter Menschen gelebt – entsprechend müssten auch die Kirchen aus elfenbeinernen Räumen ausbrechen. Sie dürften nicht warten, bis die Menschen zu ihnen kommen, im Gegenteil, die Kirchen müssten vermehrt dorthin gehen, wo Menschen leben. Zudem müssten sie «das biblische Potenzial erkennen, statt Buchstaben nachzubeten». Jesus und seine Jünger hätten weder Strukturen noch Ämter gekannt, sondern seien von Visionen beflügelt gewesen, was heute vielen Kirchgemeinden abgehe.
Nach 500 Jahren Reformation sei es Zeit, konfessionelle Trennungen aufzuheben: «Christen, vereinigt euch!», fordert Hochstrasser in seinem 5. Gebot. Weiter gehe es um mehr Gleichheit statt Klassengesellschaft («kein Oben und kein Unten mehr»), primär gelte es, Privilegien abzuschaffen, Gott müsse – anstelle von Religionsvorschriften – erfahrbarer gemacht und der Jugend mehr Raum gegeben werden.
Im zehnten und letzten Gebot verlangt Hochstrasser, dass die neue Reformation ihre ganze Kraft für jene Menschen aufwenden sollte, die den Kirchen noch fernstünden, obwohl sie sich für die Ideen und die Lebensführung des Jesus von Nazareth begeistern liessen. Sie seien die Felsen, auf die Kirchen in Zukunft bauen müssten.
*) Josef Hochstrasser: Die Kirche kann sich das Leben nehmen. Zehn Thesen nach 500 Jahren Reformation. Zytglogge Verlag, Basel 2017.