Muhammed VI und König Abdullah II beschritten beide den Weg der Reformen, doch sie verfolgten unterschiedliche Strategien, um den arabischen Frühling zu überleben. Marokko revidierte seine Verfassung, und Sultan Muhammed liess zu, dass in Zukunft nicht mehr er, sondern das Parlament aufgrund der Mehrheitsverhältnisse den Ministerpräsidenten des Landes bestimme.
Reformregierungen ohne Reformen
In Jordanien machte der König in den letzten Jahren vier Mal von seiner Vollmacht Gebrauch, den Ministerpräsidenten zu ernennen und neue Regierungen einzusetzen, wenn der Druck der Demonstranten oder die Unzufriedenheit im Parlament allzu sehr zunahmen. Die neuernannten Regierungschefs erhielten jedes Mal von Seiten des Königs den ausdrücklichen Auftrag, "Reformen" durchzuführen.
Im Februar 2011 wurde der erste dieser Regierungschefs, Samir Rifai, abgesetzt und der zweite Maruf al-Bakhit berufen. Dieser kam im Oktober des gleichen Jahres zu Fall, und der dritte Awn al-Khasawneh wurde ernannt: erneut mit dem Auftrag, "Reformen" durchzuführen. Awn al-Khawasneh reichte nun (am 26. April) seinen Rücktritt ein, und König Abdullah II ernannte Fayez Tasawneh zu seinem Nachfolger. Der neue Ministerpräsident hatte unter König Hussein als Ministerpräsident und als Hofminister gedient. Er gilt nicht als eine Person, die gewillt sein könnte, politische Veränderungen in Jordanien vorzuschlagen.
Politische Reformversuche verweigert
Khasawneh war ein Jurist und Richter. Er hatte dem König zuvor als sein juristischer Berater gedient und war dann zum Internationalen Gerichtshof in Strassburg gestossen. Er hatte 1994 für König Hussein den Friedensvertrag mit Israel ausgehandelt. Doch zwischen ihm und dem Herrscher, sowie dem jordanischen Parlament kam es zu Reibereien, weil er ein neues Wahlgesetz vorgeschlagen hatte und für eine Auflösung des Parlaments eingetreten war, in welchem die Opposition kaum vertreten ist. Sie hatte die Wahlen von 2010 aus Protest gegen das Wahlgesetz boykottiert. Der König weigerte sich, das Parlament aufzulösen.
Ein »ungleiches« Wahlgesetz
Das Wahlgesetz ist in Jordanien eine heikle Angelegenheit. Das bestehende und schon oft neu formulierte, jedoch in seinen Grundzügen bisher immer erhaltene Wahlgesetz sorgt dafür, dass in den ländlichen und in der Wüste liegenden Wahlkreisen sehr viel weniger Stimmen für die Wahl eines Kandidaten erforderlich sind - und umgekehrt sehr viel mehr in den städtischen Wahlkreisen, insbesondere in den heute zu Slums ausgewachsenen einstigen Flüchtlingslagern der Palästinenser.
Das heisst, proportional zu ihren Bewohnern sind die ländlichen Gebiete und die Wüsten-Regionen sehr viel besser im Parlament vertreten als die städtischen. Je nach Wahlkreis können die Unterschiede von eins bis zu 200 ausmachen. Zweck dieser ungleichen Behandlung ist, das Gewicht der ländlichen Bewohner des Landes im Parlament zu erhöhen, jenes der Stadtbewohner, und besonders der ärmeren unter ihnen, zu mindern. Auf dem Land und in den Wüsten leben die Stämme »Transjordaniens«, die bisher als besonders königstreu galten. Kasawneh wollte dieses Wahlrecht revidieren. Doch der König verhinderte es.
Reform in welchem Sinne?
Der Begriff "Reform", wie er in Jordanien verstanden wird, ist sehr weit und nicht besonders präzise gefasst. Es scheint dabei in den Augen des Herrschers mehr um Beseitigung der Korruption zu gehen als um Umgestaltung der bestehenden Machtverhältnisse. Verbunden mit "Modernisierung" erhält der Begriff einen wirtschaftlichen und sozialen Akzent. Er geht dann in Richtung von Umgestaltung der Lebensformen im Sinne eines globalisierten Kapitalismus.
Das Parlament als Machtzentrum?
Die Demonstranten jedoch fordern sehr deutlich eine grundlegende Reform im Staat. Ihr Hauptziel ist es, das jordanische Parlament - und nicht mehr den Hof und den König - zum eigentlichen Machtzentrum Jordaniens zu machen. Sie fordern deshalb, dass der König verpflichtet werde, den Kandidaten der parlamentarischen Mehrheit zum Regierungschef zu ernennen. Dieser Regierungschef müsse dann die eigentliche Macht ausüben. Kurz gesagt: Sie fordern eine konstitutionelle parlamentarische Demokratie.
Der König sucht dies zu verhindern, indem er die Regierungen vorschiebt und sie für "Reformen" verantwortlich macht. Wobei aber offenbar nicht an Reformen der Verfassung des Königreiches gedacht wird, sondern eher an solche des sozialen und wirtschaftlichen Lebens.
Ein widersprüchlicher Regierungsauftrag
Die bisherigen Regierungen haben die gewünschten Reformen nicht verwirklichen können. Der Auftrag ist schwierig, wenn nicht ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn die Führung durch Hof und König im wesentlichen unangetastet bleiben soll, sind die darunter liegenden Schichten von zweitrangigen Machthabern, die der König ernannt hatte, sowie die wohlhabenden und einflussreichen Eliten, die bisher dem Königreich dienten und auf die es sich stützt, schwer reformierbar. Das Herrschaftsgebäude beruht auf ihnen.
Die beiden Völker Jordaniens
In Jordanien ist die Lage dadurch kompliziert, dass eine duale Struktur das gesamte Land durchzieht: Es gibt die eigentlichen Jordanier und es gibt die Palästinenser. Jedermann weiss, wer zu welcher Gruppe im Lande gehört. Die Zugehörigkeit lässt sich an den Familiennamen und auch an sprachlichen Akzenten erkennen. Die "Jordanier" stammen aus dem alten Transjordanien der Zeit vor 1949. Sie sind jenseits des Jordans zuhause. Die meisten kennen ihre Stammeszugehörigkeit und diese ist für viele von ihnen bis heute wichtig. Sie sehen sich als die Träger des Staates, dessen Beamte, Offiziere, Verwalter, Soldaten sie primär stellen. Bis vor kurzem sahen sie sich auch als die Stützen des Königshauses.
Die "Palästinenser" waren einmal fast ihre Untertanen, nämlich zwischen 1949 und 1967 als Transjordanien Jordanien wurde, weil es die so genannten Westjordangebiete Palästinas mit Ostjerusalem, Hebron, Nablus und Jericho mit heimlicher Zustimmung Israels militärisch besetzt und sich einverleibt hatte.
Doch Palästinenser kamen auch zu Hunderttausenden als aus Palästina vertriebene Flüchtlinge nach Transjordanien; dies geschah in zwei Hauptwellen, zuerst während und nach dem Krieg von 1948-49, dann nochmals 1967, als Israel die damals jordanischen Westjordangebiete besetzte.
Palästinenser und Jordanier
Nur in Jordanien unter allen arabischen Ländern erhielten die Palästinenser volle Bürgerrechte und einen jordanischen Pass. Dennoch waren sie seit jeher "Flüchtlinge“. Als solche waren sie während Jahrzehnten eher geduldete Mitbewohner des jordanischen Staates als Mitträger des Staatswesens und des Königshauses. Lange Zeit wollten sie auch gar nichts anderes sein als Palästinenser, weil sie auf ihr von der UNO verbrieftes Rückkehrrecht nach Palästina hofften oder gar daran glaubten, dass sie sich ihre Heimkehr erkämpfen könnten. Während diesen Jahrzehnten, in denen sie auf ihre Rückkehr hofften, gingen für manche im Jahre 2000 zu Ende. Damals wurde deutlich, dass Israel die 1993 versprochene Zweistaatenlösung nur scheinbar annahm und in Wirklichkeit daran arbeitete, sie abzuwürgen. Für andere bestehen die Rückkehrhoffnungen weiter bis heute, weil sie die Rückkehr als ein unverlierbares Recht ihrer selbst und all ihrer Nachfahren ansehen.
Eine neue Geld-Elite
Dennoch sind die Jahre an den palästinensischen "Flüchtlingen", die inzwischen etwa die Hälfte der jordanischen Bevölkerung ausmachen, nicht spurlos verbeigegangen. Die Palästinenser sind mit ganz wenigen Ausnahmen nie zu Trägern des jordanischen Staates, seiner Führung, seiner Bürokratie und seiner Streitkräfte oder seiner Polizeiapparate geworden. Doch manche von ihnen waren gute Geschäftsleute, die mit Glück und Geschick die relative Sicherheit Jordaniens ausnützten, die es dem Land erlaubte, aus den Kriegen seiner Nachbarländer Gewinn zu ziehen.
Zuerst Geschäftsleute aus Libanon, später solche aus dem Irak wählten Jordanien als vorübergehenden Sitz für ihre Geschäfte in den arabischen Ländern und in der ganzen Welt. Ihr Kapital brachten sie mindestens teilweise mit. Die Palästinenser waren viel mehr in der Lage, mit diesen fremden Geschäftsleuten zusammenzuarbeiten, als die alteingesessenen Jordanier. In den letzten zehn Jahren war es soweit, dass eine wohlhabende Schicht von Palästinensern, an ihrer Spitze einige schwerreiche Familien, begann, in Jordanien einen Lebensstil zu entwickeln, der jenen der alteingesessenen "jordanischen" Elite weit übertraf.
Dies wirkte sich auch auf die Mittelschichten der beiden Bevölkerungshälften aus. Die Palästinenser, deren Wohlstand auf Handel, Geschäften und Dienstleistungen für die Wirtschaft beruhte, waren eher in der Lage, mit der starken Teuerung Schritt zu halten, die, wie überall in der arabischen Welt, die Lebensmittel und die Wohnungsmieten betraf. Die "Jordanier" hingegen waren auf die Gehälter angewiesen, welche der Staat seinen Angestellten und Bedientesten entrichtet, und diese hielten nicht mit der Teuerung Schritt. Die Landwirtschaft, auch eine Unterhaltsquelle der alteingesessenen "Jordanier", litt immer mehr unter Wassermangel.
"Wir sind doch die echten Jordanier"
Natürlich gibt es noch immer eine riesige Masse von Palästinaflüchtlingen, die in den zu Elendsvierteln umgebauten Flüchtlingslagern hausen und beim Aufstieg ihrer wohlhabenden Mitpalästinenser nicht mithalten konnten. Doch die sichtbarsten unter den "Palästinensern" sind natürlich die reich Gewordenen. Sie haben begonnen, dank ihrer Mittel, ihrer Kenntnisse und Beziehungen einen Rang in Jordanien einzunehmen, den ihnen die alteingesessenen "echten Jordanier" oftmals missgönnen. Diese verstehen nicht, warum die "Flüchtlinge", die doch eigentlich nach Palästina gehören und die Jordanien doch nur aus Wohltätigkeit aufgenommen habe, sich nun im Lande, gewissermassen auf ihre Kosten, so breit machen sollen. Sie billigen auch nicht, dass diese Leute mehr und mehr Einfluss auf den Hof ausüben. Sie schreiben diesen Einfluss gerne der Königin Rania zu, die aus einer palästinensischen Familie stammt, die in Kuwait Zuflucht gefunden hatte und dort wohlhabend geworden war.
Der Thron in der Mitte
Der ganze hier umrissene dualistische Komplex der inneren Verfassung Jordaniens wirkt sich auf die Sicherheit des Landes aus, weil die herkömmlichen Träger des Regimes und des Throns die "Jordanier" sind. Ihr Unmut über ihre heutige Lage, verglichen mit jener der Palästinenser, so wie sie sie wahrnehmen, wenn sie auf die palästinensische Geld-Elite blicken, bewegt sie zu Kritik am heutigen jordanischen Staat und am König und seiner Gemahlin. Sie sehen sich als benachteiligt an, weil ihre bisherige Vorzugsstellung im Lande abzunehmen scheint und von den palästinensischen Oberschichten überflügelt zu werden droht.
Der Hof seinerseits kann und will auf die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Geschäftsleuten nicht verzichten, weil sie viel mehr als die Staatsdiener, welche Geld kosten, dringend benötigte Quellen von produktivem Geld und Wohlstand erschliessen.
Die alten Staatsdiener sind auch der Ansicht, dass auf die Palästinenser nicht wirklich Verlass sei. In der Tat bildeten sie in der Vergangenheit jene Gruppe, die den jordanischen Staat und die Monarchie in Frage stellte, am deutlichsten in den Jahren vor dem Schwarzen September 1970, dem Zeitpunkt, in dem die jordanische Armee den damaligen palästinensischen Kampfgruppen, die von Jordanien gegen Israel kämpfen wollten, blutig das Handwerk legte.
Doch dies ist schon lange her, und gerade die palästinensischen Oberschichten, die in Amman ein gutes Leben führen, dürften ein Interesse am Fortbestehen Jordaniens entwickeln - sogar einschliesslich des Königshauses. Natürlich würden sie sich nicht wehren dagegen, wenn die Monarchie ihnen ein gewisses politisches Mitspracherecht gewährte. Doch die aktivste politische Opposition im Land sind nicht sie, sondern, die „Islamische Aktionsfront“ (IAF), die den Muslim-Brüdern nahe steht. Sie sind es, die immer wieder energisch zu Demonstrationen aufrufen.
Klagen der jordanischen Würdenträger
Der König hat in den vergangenen Jahren mehrmals Bittschriften von hohen Offizieren und ehemaligen Generälen erhalten, in denen darüber geklagt wurde, dass die neureichen Palästinenser den altgedienten Jordaniern den Rang abliefen. Angesichts der Wirtschaftsentwicklung, die darauf hinausläuft, Empfänger von staatlichen Gehältern gegenüber Geschäftsleuten zu benachteiligen, dürfte sich der Antagonismus zwischen den beiden Hauptgruppen der jordanischen Bevölkerung in den kommenden Jahren weiter verschärfen.
Die bisherigen Träger des Staates
Dies alles wirkt sich auf die Frage der politischen Reformen aus. Würden sie wirklich eingeführt, sähen die heute schon unzufriedenen "Jordanier", besonders die bisher immer noch angesehenen Würdenträger unter ihnen, sich weiter zugunsten der reichen palästinensischen Elite-Familien benachteiligt, und der Thron, dessen Stützen sie bisher gewesen sind, könnte ins Wanken geraten.
Ohnehin kann man vermuten, dass der König nicht wirklich bestrebt ist, seine Macht aufzugeben. In seiner Lage könnte sich auch schon eine Verminderung seiner Vollmachten als folgenreich erweisen, weil sie schwer zu begrenzen wäre. Er könnte sich bald gezwungen sehen, alle Macht an die gewählten Behörden abzutreten. Dies würde bedeuten, dass wahrscheinlich auch in Jordanien aufgrund der Stimmenmehrheit die Muslim-Brüder und ihnen verwandte islamistische Formationen zur Macht gelangten. Es sei denn, dass ihnen die Armee zuvor käme, in der die "jordanischen" Offiziere noch immer den Ton angeben, und dass sie dafür sorgte, dass ein neuer militärischer Autoritarismus, ohne König oder im Namen des Königs, das Szepter übernähme.
Die Gratwanderung dauert an
Solche Risiken will der König vermeiden. Auch die ausländischen Mächte sehen und pflegen Jordanien als einen notwendigen Pufferstaat an der längsten israelischen Grenzen. Vor allem die USA und die Saudis dürften von solchen Reformen, politischer und konstitutioneller Natur, dringend abraten.
Es ist deshalb anzunehmen, dass König Abdullah das begonnene Spiel fortführen wird. Er wird weiter versuchen, das Gleichgewicht zwischen den beiden rivalisierenden Hauptgruppen von Jordaniern aufrecht zu erhalten und sobald nötig neue Regierungschefs einsetzen, jedes Mal mit dem Auftrag, "Reformen" durchzuführen, jedoch solche, die das bestehende System nicht wirklich verändern.
Doch kann dieses Spiel schwerlich ewig fortgesetzt werden. Wann es zur Krise führen wird, und welcher Art genau diese sein könnte, ist noch nicht erkennbar. Man kann jedoch eines erwarten: Sogar wenn es zur Krise kommt, wird der König auf die weltstrategische Funktion seines Pufferstaates zählen können. Sie dürfte bewirken, dass die USA und Saudiarabien alles tun werden, was sie können, um seine Herrschaft stabil zu erhalten.