Dass es der Schweizer Bevölkerung vergleichsweise gutgeht, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich da und dort Reformbedarf aufstaut. Im Moment, wo wir uns auf die Schultern klopfen beim Vergleich mit Ländern wie Italien, Spanien, Portugal, Frankreich und deren grossen Turbulenzen, gilt es klar zu sehen: Woher kommen denn dort diese Probleme? Von der Reformunfähigkeit der Politik, des Staatsapparats, der Gewerkschaften und der Wirtschaftsstrukturen.
Reformunfähigkeit
Sucht man nach Gründen, warum diese Länder enorme Schuldenprobleme haben – tatsächlich wachsen deren Schulden seit Jahren kontinuierlich weiter – wird bald einmal klar, dass viele Verantwortungsträger vom jetzigen Zustand profitieren und aus Partikularinteressen eigentlich daran gar nichts ändern wollen. Stellvertretendes Beispiel: Soll die lahmende wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit angekurbelt werden, müsste in den aufgeblähten Firmen oder staatlichen Verwaltungen Personal entlassen werden. Ist dies von Gesetzes wegen verboten und die Gewerkschaften beharren auf dem anachronistischen Kündigungsschutz, wie soll dann überhaupt restrukturiert werden?
Natürlich ist das stark vereinfacht dargestellt. Dennoch gilt die Umkehrregel: Soll ein Land florieren, müssen seine Gesetze im Einklang mit dem laufenden Wandel – heute Globalisierung – laufend neu austariert werden. Die Gratwanderung zwischen Reformdruck der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anliegen ist heikel. Allzu oft gelingt es gut organisierten Lobbygruppen, ihre Interessen zulasten weiter Bevölkerungsanliegen durchzusetzen. Doch in der direkten Demokratie der Schweiz kommt die Reaktion aus der Gesellschaft. Meistens mit Verspätung, doch sie kommt.
Verschiedene hängige Reformvorhaben in unserem Land sind dringend notwendig. Da am Schluss an der Urne entschieden wird, sollten wir uns intensiv und über längere Zeit damit befassen. „Wir sind doch mit den aktuellen Regeln gut gefahren.“ Stimmt! Doch damit unsere Kinder und Enkel dies dereinst auch sagen werden, deshalb brauchen wir laufend Reformen.
Alterspyramide
Wer sich einmal auf der Internetseite der Bundesverwaltung (www.admin.ch) die Alterspyramide der letzten hundert Jahre genauer anschaut, realisiert bildlich, was uns heute alle, und zwar Gesellschaft und Politik, beschäftigen sollte. Die Spitze (ältester Bevölkerungsteil) ist von 80 auf über 90 Jahre angestiegen. Und: statt einer Pyramide (unten breit, oben spitzig) wie um 1900, ist im Jahr 2000 ein unförmiges Gebilde zu sehen, dessen breiteste Stelle (grösster Bevölkerungsanteil) bei 35 Jahren liegt.
Im Klartext: Die Bevölkerungsstruktur hat sich total verändert. Der Anteil der über 65-Jährigen steigt, jener der unter 19-Jährigen sinkt seit Jahren kontinuierlich. Oder anders gesagt: Der Anteil der Erwerbsbevölkerung geht zurück, jener der Pensionäre steigt. Immer weniger Arbeitende müssen für immer mehr Ältere aufkommen, was sich vor allem bei der AHV auswirkt.
Deshalb die Rentenreform (siehe journal21-Beitrag vom 19. September 2014 http://www.journal21.ch/man-kann-nicht-allen-gefallen). Diese Entwicklung beeinflusst natürlich auch die Gesundheitskosten, also Krankheits- und Pflegeauslagen. Und, weniger im Fokus der Aufmerksamkeit, die Fürsorgeämter. Der Politologe Michael Hermann meint dazu: Während Schweden seinen Sozialstaat grundlegend reformiert hat, wird bei uns jede echte Reform am Politikmodell der geteilten Verantwortung aufgerieben.
Altersvorsorge
Bekanntlich kennen wir in der Schweiz das „Drei-Säulen-Prinzip“, welches unser Leben nach 65 finanziell bestmöglich gewährleisten soll: Säule 1: AHV, IV, EL, Säule 2: berufliche Vorsorge zur Finanzierung der gewohnten Lebenshaltungskosten, Säule 3: private Vorsorge als Ergänzung.
Wer erinnert sich heute noch daran, dass vor 1948 (Einführung der AHV) Betagte von ihrem Ersparten leben mussten und, wenn nötig, von Familienangehörigen, gemeinnützigen Organisationen, den Kirchen oder – wenn alle Stricke rissen – von der Armenfürsorge unterstützt wurden? Die AHV- Minimalrente betrug übrigens 40 Franken, was heute teuerungsbedingt 183 Franken wäre – tatsächlich beläuft sie sich aktuell auf 1’105 Franken. Die 2. und 3. Säule sollen heute sicherstellen, dass unser Leben nach 65 einigermassen sorglos verlaufen soll, auch wenn keine Vermögen herangezogen werden können.
Chancen durch Reformen
Analysiert man die demographische Entwicklung und jene der Lebens- und Spargewohnheiten, resultiert daraus ein enormer Veränderungsdruck. Menschen über 65 leben heute länger – das muss finanziert werden. Gleichzeitig brauchen auch immer mehr ältere Leute längere und intensivere Pflege. Alterszentren platzen aus allen Nähten, Pflegespitäler auch. Deren Kosten explodieren. Die Krankenkassenprämien steigen unentwegt. Gleichzeitig sind unsere Ansprüche gestiegen. Deren Befriedigung kostet ein Vielfaches früherer Zeiten. Die Konsequenz: Die Generation 65 plus verursacht Jahr für Jahr grössere Kosten.
Wer bezahlt diese, wenn das eigene Portemonnaie leer ist? Irgend jemand. Der Staat. Die öffentliche Hand. Der Steuerzahler. Glaubt man den offiziellen Statistiken, sind die Aussichten nicht rosig. Obwohl wir in komfortablen Zeiten leben, reicht das Ersparte oder Ererbte – sofern überhaupt vorhanden – oft nicht. Sparen fürs Alter gehört nicht mehr unbedingt zu Schweizers Tugenden.
Es kann deshalb nicht überraschen, wenn in der politischen Agenda die Reformvorschläge im Zusammenhang mit der geschilderten Situation zunehmen. Alain Berset‘s Reformpaket der Renten ist zweifellos der grösste Brocken. – Hier zwei weitere Themen:
- Sparzwang für Alterspflege. Im Juli 2014 lancierte der Think-Tank Avenir Suisse die Idee, dass die Generation 55 plus einem Obligatorium des Sparens für die eigenen Pflegekosten unterstellt würde. Ausgelöst wird diese Idee durch das horrende Ansteigen der Ergänzungsleistungen (EL). Diese Kosten haben sich innerhalb von nur zehn Jahren auf 4,5 Milliarden verdoppelt. Empfänger sind jene, deren Ressourcen für ihre Pflege nicht reichen. Die SP taxiert die Vorschläge schon mal als untauglich.
- Vorbezüge aus Pensionskasse geraten ins Zwielicht. Gemäss Tages-Anzeiger (26.6.2014) beziehen mehr als 80‘000 Personen jährlich Pensionskassengelder, um damit ein Haus zu kaufen, ein Unternehmen zu gründen oder selbst „Anlageberater“ zu spielen. „Manche Pensionäre verprassen das Kapital auch“ – und müssen anschliessend Ergänzungsleistungen beantragen. Auch dieser Zustand ist unbefriedigend. Eigentlich nachvollziehbar, dass der Bundesrat diesem Trend ein Ende bereiten möchte. Und natürlich meldet sich stellvertretend sogleich Pierin Vincenz, Chef der Raiffeisenbanken. Ausgerechnet, ist man versucht zu sagen. Ist doch diese Gruppe kürzlich als systemrelevant bezeichnet worden angesichts ihres enorm hohen Anteils an Hypothekarschuldnern in der Schweiz.
Reformen haben es schwer
Diese kleine Zusammenstellung von Reformideen im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung zeigt exemplarisch: Bevor die sachliche Diskussion losgeht, überziehen deren Gegner unser Land mit strikten Ablehnungsparolen. Aktuellstes Beispiel: Versenkung der Kartellgesetz-Revision im Nationalrat. Würde man den Reformkatalog auf andere Bereiche des Alltags ausdehnen – das Lamento wäre nicht auszudenken. Deshalb scheitern seit Jahrzehnten sinnvolle Reformansätze im Keim.
Gemäss dem von Avenir Suisse erstellten D-A-CH-Reformbaromter lässt der Reformeifer der Schweiz immer mehr nach. Der Grund liegt gemäss den Autoren bei fehlendem Leidensdruck und Reformbewusstsein. Zukunftsbewältigung, Strategieentwicklung für zukünftige Generationen? Offensichtlich nicht vordringlich. Noch nicht.