Prof. Dr. med. Ulrich Althaus war von 1986 bis 1999 Ordinarius der Universität Bern und Direktor/Chefarzt der Universitätsklinik für Thorax-, Herz- und Gefässchirurgie.
Die Coronavirus-Krise verändert die Welt. Wie sieht unsere Zukunft nach Überwindung der Pandemie aus? Wird sich die globale Just-in-Time-Produktion mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, überlebt haben? Werden wir uns auf das besinnen und dafür kämpfen, was wirklich relevant ist?
Sind tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zu erwarten? Spielen In der neuen Welt Vermögenswerte keine Rolle mehr? Sind nur noch gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten wichtig? Fragen über Fragen, die zurzeit schwer zu beantworten sind.
Prioritäten anders setzen, Probleme neu bewerten
Der Fächer der Prognosen öffnet sich weit, das Spektrum reicht vom apokalyptischen Dammbruch bis zur heilen, von Hektik und Stress befreiten Welt. Der renommierte Zukunftsforscher Matthias Horx versetzt sich in den September 2020 und schaut nicht in die Zukunft, sondern von der Zukunft aus zurück ins Heute: „Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee wieder wie früher? Wie damals vor Corona? Oder sogar besser?“ Er staunt, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden sind und stellt fest, dass die Welt niemals wieder zur gewohnten Normalität zurückkehren wird, dass unsere Technikgläubigkeit einen Dämpfer erfährt, dass „ortsnahe Produktionen boomen“ und unsere Netzwerke lokaler werden.
Er prognostiziert zwar einen Konjunktur- und Börseneinbruch, vergleicht die Wirtschaft aber mit einem atmenden Wesen, „das auch dösen oder schlafen“ kann, aber nie den Nullpunkt erreicht. Was er rückblickend sieht, ist enorm positiv und ausgesprochen optimistisch. Er geht davon aus, dass die aktuelle „Tiefenkrise“ zum Ausgangspunkt einer sich neu formenden Welt wird, in der wir Prioritäten anders setzen und Probleme neu bewerten; dies werde die Menschen aus Sackgassen, in die sie sich verrannt hätten, herausführen.
Niemand weiss, wie wir da herauskommen
Er rechnet damit, dass „aus einem massiven Kontrollverlust [...] ein regelrechter Rausch des Positiven“ entstehen könnte und aus der befürchteten Apokalypse in Wirklichkeit ein Neuanfang werde. Alles, was Horx schreibt, klingt wunderbar. Ich nehme an, in unserem Umfeld würden wohl die meisten ohne lange zu überlegen, eine solche neue Welt mit den paradiesisch dargestellten gesellschaftlichen Veränderungen unterschreiben.
Doch es lässt sich nicht leugnen, dass auch eine Re-Gnose nichts anderes ist als eine Pro-Gnose – selbst wenn man es umgekehrt aufschreibt. Denn niemand weiss, wie wir aus dieser Krise herauskommen, welche Rückschlüsse wir ziehen müssen und vor allem, wie nachhaltig sich unser jetziges Leben mit weniger Konsum konservieren lässt.
Die EU, am Praxistest gescheitert
Wer tagelang aus erzwungenen Gründen nur weisse Bohnen und Schmalzfleisch aus der Dose essen kann, wird sich vielleicht sagen: Eigentlich brauche ich es nicht, jeden Abend fein essen zu gehen. Doch wird er das auch denken, wenn die Krisenzeit vorbei ist? Wenn er wieder die Möglichkeit hat, den Italiener seiner Wahl aufzusuchen?
Man kann die aktuelle Lage auch ganz anders zeichnen: Die EU wird als Schönwetterverein empfunden, Nationen schotten sich ab, die europäische Idee ist in dem Moment, in dem sie einen nützlichen Beitrag leisten könnte, am Praxistest gescheitert; denn die EU mit ihrer komplexen Struktur ist ausserstande, in einer Highspeed-Situation auf Krisenmodus umzuschalten.
Weniger Freiheiten
Nicht von der Hand zu weisen ist nach Überwindung der aktuellen Pandemie auch folgendes Szenario: Wir werden mit weniger Freiheiten und einem repressiven Staat leben müssen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens macht den Patienten zum gläsernen Menschen, der Datenschutz wird mit Verweis auf das Epidemierisiko abgeschafft. Individuelle Bewegungsprofile erlauben ein ständiges Tracking und Verfolgen von infizierten Personen und ihre Isolierung in dafür vorgesehenen Regionen.
Oder wie der Zukunftsforscher Daniel Dettling befürchtet: „Auf nationaler Ebene führt die De-Globalisierung zu einer De-Urbanisierung und zu einer neuen Stadtflucht. Die Städte werden zu den nervösesten Plätzen der Welt. Der Trend zum Single-Leben und zu immer kleineren Wohnungen hat die Stadtbevölkerung unselbstständig gemacht. Wer kann, zieht raus aufs Land und versorgt sich selbst. Die Zersiedelung nimmt überhand und hinterlässt eine verstädterte Landschaft mit immer weniger Freiflächen.
Wichtige soziale Interaktionen
Zurzeit heisst das Gebot der Stunde Physical Distancing. Ich halte mich daran, jedoch nicht an die staatlich verordnete, unsinnige Forderung nach Social Distancing.
Gerade wenn eine Pandemie die Menschen in die Isolation treibt, sind zur Stressbewältigung sowie zum Abbau von Ängsten Beziehungen und soziale Interaktionen ganz besonders wichtig. Dabei erweist sich die moderne Kommunikationstechnologie als segensreich: Die Digitalisierung ermöglicht es uns, private und geschäftliche Beziehungen zu pflegen, ohne einander physisch nahe zu sein. Eine echte Chance, gerade in Krisenzeiten, wie das Coronavirus eben zeigt. Ein Telefongespräch oder ein elektronischer Chat mindert die Risiken der sozialen Abschottung, deren Folgenspektrum von Depressionen über Suchtmittelmissbrauch bis zu häuslicher Gewalt reicht.
Die neunmalklugen Auguren
So durchleben wir alle gegenwärtig eine aussergewöhnliche Zeit. Kein Mensch weiss, wie lange dieser Wahnsinn andauern wird. Wer eine Prognose wagt, betreibt Kaffeesatzlesen. Auch die neunmalklugen Auguren vermögen nicht vorauszusagen, ob und in welchem Masse sich unsere Gesellschaft nach Bewältigung der aktuellen Krise verändert. Man wird zweifellos gelernt haben, dass die Sicherheit, in der wir uns normalerweise bewegen, trügerisch ist, dass ein winziger Nano-Zwerg die ganze Weltordnung auf den Kopf stellen kann.
Ist das Ganze mal durchgestanden, werden wir wohl mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, eine stärkere Solidarität untereinander erlebt zu haben. Gut auch, dass selbst die treuherzigsten Anhänger der Homöopathie sich eingestehen müssen: Die Experten aus Epidemiologie, Immunologie und Virologie belegen mit ihren Fakten und Kausalzusammenhängen die Überlegenheit der evidenzbasierten Medizin gegenüber alternativen Heilpraktiken.
Schlag für die Alternativmedizin – niemand hamstert Globuli
Das Vertrauen in die Forschung ist zurückgekehrt, der Glaube an die Wissenschaft gewachsen, welche ohne Brimborium mit Duftkerzen, sphärischen Klängen und esoterischem Klamauk an der Lösung eines ernsthaften gesundheitlichen Problems arbeitet. Bis vor kurzem galt es selbst in Akademikerkreisen als chic, das Impfen zu verteufeln und alternative Heilmittel zu verherrlichen. Seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie hamstert niemand mehr Globuli. Plötzlich gilt die Chemie nicht mehr als „böse“; vielmehr setzte ein derart grosser Ansturm auf die Schmerzmittelklassiker Paracetamol und Ibuprofen ein, dass deren Abgabe rationiert werden musste.
Es bleibt allerdings ungewiss, wie nachhaltig dieser Gesinnungswandel sein wird; es wäre wenig erstaunlich, wenn die Alternativmedizin schon bald wieder unbeirrt ihren Weg im Dunstkreis des Okkultismus fortsetzen würde.
Fazit: Wie sich nach der Coronakrise unsere Welt verändern wird, bleibt offen. Statt in die Glaskugel zu schauen, sollten wir uns bemühen, durch verantwortungsbewusstes, solidarisches Handeln die Gegenwart zu meistern – getragen von Zuversicht und unbelastet von Alterspessimismus.