Der Zweite Weltkrieg wurde auch im Äther ausgefochten. Zwischen 1939 und 1945 verbreitete Joseph Goebbels’ „Grossdeutscher Rundfunk“ flächendeckend die Heilsbotschaft des Nationalsozialismus in Europa. Propaganda ersetzte die Information. Es gab wenige politisch unabhängige Kommentatoren des Zeitgeschehens. Zu diesen gehörten der Schweizer Historiker Jean Rudolf von Salis und der deutsche Schriftsteller Thomas Mann.
Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehören die Radiokommentare, die der Historiker Jean Rudolf von Salis während des Zweiten Weltkriegs zum Zeitgeschehen abgab. Zwar war ich damals zu jung, um etwas von dem zu verstehen, was der Professor sagte. Aber mir bleibt in Erinnerung, wie sich mein Vater jeweils an Freitagabenden um 19.10 Uhr in die gute Stube begab, um eine Viertelstunde lang der „Weltchronik“ zu lauschen, die Radio Beromünster ausstrahlte. Ähnlich wie heute bei einem sportlichen Ereignis wurde es still auf den Strassen, wenn von Salis sprach. Auch in Deutschland und in den von Hitlers Wehrmacht besetzten Ländern hatte der Historiker, obwohl dort der Empfang von „Feindsendern“ strikt verboten war, ungezählte Hörer.
Zurückhaltend und zugleich deutlich
Wer heute die von Jean Rudolf von Salis herausgegebene „Weltchronik“ liest oder sich die CD von Hanspeter Gschwend mit Ausschnitten aus den Kommentaren anhört, ist erstaunt über die distanzierte Zurückhaltung, mit welcher der Historiker vom Zeitgeschehen berichtet. Seine Berichterstattung beschränkt sich weitgehend auf die Mitteilug von Fakten, auf wörtliche Zitate aus Ansprachen von Politikern und auf die Meldungen von ausländischen Nachrichtenagenturen.
Von Salis versagt sich eine politische Partei- oder Stellungnahme; explizite Kritik oder gar Polemik sind ihm fremd. Auch mit moralischem Urteil hält er sich zurück. Zwar nimmt er die Brutalität moderner Kriegführung durchaus wahr; statt Schuldzuweisungen vorzunehmen, bedient er sich jedoch gern des neutralen Wortes „tragisch“, um einen bestimmten Vorfall zu bezeichnen. So äussert er sich etwa zu Geiselerschiessungen wie folgt: „Zu tragischen Vorfällen kam es etwa im besetzten Frankreich, wo die Ermordung von deutschen Offizieren in Nantes und in Bordeaux durch die Erschiessung einer ausserordentlich hohen Anzahl von Geiseln gesühnt wurde.“
Auch Hitlers Judenverfolgung wird zwar erwähnt, aber nicht kritisiert, wenn von Salis schreibt: „Als das deutsche Kriegsziel bezeichnet der Reichskanzler die Verhinderung der Ausrottung der arischen Völker durch die Gemeinschaft des jüdischen Kapitalismus und Kommunismus. Durch diesen Krieg würde nicht die arische Menschheit vernichtet, sondern die Juden würden ausgerottet werden.“
Trotz dieser Zurückhaltung im moralischen Urteil wird man nicht von Gesinnungsneutralität sprechen dürfen. Denn von Salis macht durchwegs deutlich, dass er von demokratischem Standort aus urteilt und die totalitäre Diktatur ablehnt. Auch lässt er in seine Kommentare immer wieder geschichtliche Vergleiche einfliessen, die sich ein Journalist in Deutschland nie hätte erlauben dürfen, so etwa, wenn er im Zusammenhang mit Hitlers Krieg im Osten den gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons erwähnt.
Innerhalb der Grenzen der „Vorzensur“
Man hat Jean Rudolf von Salis vorgeworfen, er habe zu wenig kritisch auf die Gewaltverbrechen von Hitlers Polizeistaat hingewiesen und insbesondere die Judenverfolgung ausgeblendet. Solche Kritik verkennt die Umstände, die zur Entstehung der Radiosendungen führten:
Im Februar 1940 hatte der Historiker vom damaligen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz den Auftrag erhalten, das Zeitgeschehen in regelmässigen Radiosendungen zu kommentieren. Dem Bundesrat war es ein wichtiges Anliegen, alles was die Unabhängigkeit der neutralen Schweiz gefährden konnte, nach Möglichkeit zu vermeiden. Die Abteilung Presse und Rundfunk erliess im Juli 1940 entsprechende Richtlinien, welche bei der politischen Beurteilung ausländischer Staaten Zurückhaltung empfahlen und sich gegen „überspitzte und beleidigende“ Meinungsäusserungen wandten.
Von Salis’ Kommentare wurden einer „Vorzensur“ durch die Direktion des Schweizerischen Rundfunkdienstes unterworfen, die freilich wenig zu bemängeln hatte, da der Historiker die Grundhaltung des Bundesrats teilte. Eine offene Kritik an den Geiselerschiessungen oder am Holocaust hätte die „Vorzensur“ nie durchgehen lassen.
Ganz anders verhielt man sich gegenüber der Schweizer Presse, die im von Hitler beherrschten Ausland verboten war. Sie war zwar einer sogenannten „Nachzensur“ unterworfen. Der Bundesrat respektierte aber in der Regel die Meinungsfreiheit der Journalisten. So konnte der junge Historiker Herbert Lüthy, von Salis’ späterer Kollege an der ETH, bei seiner Kritik an der Hitler-Diktatur in der „Kleinen Wochenschau“ des „Sankt Galler Tagblatts“ sämtliche Register der Kritik, von schriller Anklage zu sarkastischer Ironie, ziehen. Und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ und in den „Basler Nachrichten“ bezogen Willy Bretscher und Albert Oeri unmissverständlich Stellung gegen den Nationalsozialismus. Der Schweizer Historiker Werner Vogt hat in seiner Studie „Winston Churchill und die Schweiz“ detailliert aufgezeigt, wie die Berichterstattung der NZZ den englischen Premierminister Winston Churchill zur Symbolfigur der freien Welt und zum Gegenpol Hitlers hochstilisierte.
Wirkung durch Nüchternheit
Es ist durchaus möglich, dass von Salis’ Kommentare gerade durch ihre zurückhaltende Art bei seinen Hörern in der Schweiz und im Ausland erhöhte Glaubwürdigkeit erhielten. Zu einer Zeit, in der das Gekläff von Goebbels’ Propagandasendern den Äther dominierte und selbst der Sprecher der Schweizer Filmwochenschau den martialischen Tonfall patriotischer Wehrhaftigkeit anschlug, dürften die mit akademischer Sachlichkeit vorgetragenen Kommentare des Geschichtsprofessors nicht nur informativ und glaubwürdig, sondern auch tröstlich gewirkt haben. Dies geht auch aus den Zeugnissen von Hörern hervor, die sich im Nachlass von Jean Rudolf von Salis, der im Schweizerischen Literaturarchiv aufbewahrt wird, finden.
So schrieb ein deutscher Jude, der in Holland untergetaucht war: „Da spürte man nichts von Propaganda, sondern sachlichen Bericht, die Stimme eines kriegsfreien Landes, Klarheit, Blickweite. Natürlich gab es politisch vorsichtige Formulierungen, doch stets fühlte man das Gewissen zur Wahrhaftigkeit und noch mehr das Herz für die Menschen.“ Und der ehemalige österreichische Kurt von Schuschnigg, der Radio Beromünster im Konzentrationslager Sachsenhausen abhören konnte, schrieb: „Da kämpfte auf der Schweizer Wellenlänge ein Einsamer gegen das verallgemeinernde grosse Missverständnis des Heraklit-Satzes vom Krieg als Vater aller Dinge.“
Thomas Mann
Zur selben Zeit, in der Jean Rudolf von Salis seine „Weltchronik“ von Radio Beromünster ausstrahlen liess, kommentierte Thomas Mann von seinem kalifornischen Exil aus über Radio BBC das Weltgeschehen. Seine Texte wurden in monatlichen Abständen nach London gesandt.
Damit bezog der Schriftsteller im Propagandakrieg im Äther eindeutig Stellung, und der Inhalt seiner Kommentare zum Zeitgeschehen liess keinen Zweifel darüber, auf welcher Seite er stand. Mit aller hasserfüllten Polemik, die seine sprachliche Begabung freisetzen konnte, wandte sich Thomas Mann gegen die „die Diktatur des Gesindels“, welche Deutschland beherrschte. Kaum je dürften in deutscher Sprache die führenden Figuren des Nationalsozialismus so wutentbrannt charakterisiert worden sein wie in Thomas Manns Kommentaren, die 1945 unter dem Titel „Deutsche Hörer“ vom Fischer Verlag herausgegeben wurden. Hitler erscheint dem Schriftsteller als ein „blutiger Komödiant“, als eine „Gottesgeissel“ und die „abstossendste Figur“, „auf die je das Licht der Geschichte fiel“; Goebbels ist ein „aufgesperrtes Lügenmaul“, Göring ein „fetter, putzsüchtiger Gross-, Erz- und Reichsmarschall“ und Rommel ein „frecher Nazi-Bandenfüher“. „Was für eine Menagerie!“, ruft Thomas Mann am Ende einer seiner Hasstiraden aus, „Das soll siegen, bleiben, dauern, der Welt den Fuss auf den Nacken setzen?“
Auch die nationalsozialistischen Verbrechen werden vom Schriftsteller unmissverständlich beim Namen genannt. Er spricht von den „im Warschauer Ghetto an Typhus, Cholera und Schwindsucht verendeten Juden“. Er erwähnt die Konzentrationslager, die in Wahrheit riesige „Mordanlagen“ und „Todesfabriken“ seien. Angesichts solch grauenvoller Untaten, bemerkt er, gebe es für das deutsche Volk nur eine Möglichkeit des Verhaltens. „Entsetzen, Scham und Reue“, sagt er, „ist das Erste, was nottut. Und nur ein Hass tut not, der auf die Schurken, die den deutschen Namen vor Gott und der Welt zum Greuel gemacht haben.“
Und er geht noch einen Schritt weiter, wenn er von der „Unsühnbarkeit“ der nationalsozialistischen Verbrechen spricht und den Gedanken einer deutschen Kollektivschuld nahelegt. An der Schuld Deutschlands gibt es für Thomas Mann keinen Zweifel. Nach dem Bombardement seiner Geburtsstadt Lübeck im März 1942 stellt er fest: „Und lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden gelitten haben. Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss.“
Der Eifer von Thomas Mann
Thomas Mann war kein politischer Redner; das Pathos, das er in seinen Radiokommentaren einsetzt, klingt nicht sehr überzeugend. Dies lässt sich an einem Tondokument nachprüfen, welches man zurzeit im Rahmen der aktuellen Ausstellung „Thomas Mann in Amerika“ im Zürcher „Strauhof“ abhören kann. Aber unzweifelhaft ist, dass der Schriftsteller von dem, was in Deutschland politisch möglich geworden war, zutiefst erschüttert war. Thomas Mann hatte sich nach dem Erfolg der „Buddenbrooks“ als Nationaldichter feiern lassen, hatte sich im Ersten Weltkrieg als patriotisch gesinnter Autor zu Wort gemeldet und am Kriegsende das Buch „Betrachtungen eines Unpolitischen“ erscheinen lassen. In diesem Buch, von dem sein Sohn Golo meinte, es wäre besser ungeschrieben geblieben, äusserte er nationalkonservative Ansichten, die sich zum Teil dem nationalsozialistischem Ideengut bedenklich näherten. Was Thomas Mann in tiefster Seele traf und erzürnte, war denn auch die Feststellung, dass die Nazis Werte verhunzten, die ihm persönlich wichtig waren und die, seiner Meinung nach, das Ansehen der deutschen Kulturnation in der Welt ausmachten. Es ist denn auch das Wort „Verhunzung“, das in Manns Kritik am Nationalsozialismus immer wieder vorkommt.
Wie ist Thomas Manns Botschaft beim deutschen Publikum angekommen? Der Thomas-Mann-Biograf Klaus Harpprecht vermutet, der Schriftsteller habe mit seiner „grellen Polemik“ an den deutschen Zuhörern vorbeigeredet. Das dürfte zutreffen. Wenn man bedenkt, dass in den Nachkriegsjahren das gängige Narrativ des deutschen Geschichtsbewusstseins darin bestand, die Katastrophe des Dritten Reiches auf die Verführung eines unschuldigen Volkes durch eine Minderheit von kriminellen Elementen zurückzuführen, dürfte der Aufruf Thomas Manns zu schamvoller Reue eher kontraproduktiv gewirkt haben.
Als der Schriftsteller 1947 nach Deutschland zurückkehrte, fühlte er sich jedenfalls fremd im eigenen Land. Auf die Aufforderung eines deutschen Schriftstellerkollegen, in Deutschland dauernd Wohnsitz zu nehmen, antwortete er: „Ja, Deutschland ist mir in all diesen Jahren doch recht fremd geworden. Es ist, das müssen sie mir zugestehen, ein beängstigendes Land.“ Ein anderer Schriftsteller, Frank Thiess, spielte die „innere Emigration“ gegen die Emigranten aus, welche aus den „Logen- und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zugeschaut“ hätten. „Ich glaube“, schrieb Thiess, „es war schwieriger, sich hier seine Persönlichkeit zu bewahren, als von drüben Botschaften an das deutsche Volk zu senden, welche die Tauben im Volke ohnehin nicht vernahmen, während wir Wissenden uns ihnen stets um einige Längen vorausfühlten.“ Das waren wenig einladende Äusserungen. Im Jahr 1952 entschied sich Thomas Mann, nicht nach Deutschland zurückzugehen, sondern seine letzten Lebensjahre in der Schweiz zu verbringen.
Jean Rudolf von Salis’ „Weltchronik“ und Thomas Manns „Deutsche Hörer“ gehören zu den wichtigsten historischen Quellen, die der Krieg im Äther uns hinterlassen hat. Die beiden Autoren haben sich nach dem Krieg gelegentlich getroffen, in Zürich oder auf Schloss Brunegg, dem Sommersitz der Familie von Salis. Haben sie sich über ihre Radiobotschaften unterhalten? Wir wissen es nicht.