Wie in Yangon mitgeteilt wurde, reist Aussenministerin und Staatsrätin Aung San Suu Kyi – de-facto Präsidentin Myanmars – in diesem Jahr nicht zur Uno-Generalversammlung nach New York. Noch vor einem Jahr wurde sie dort als Vorkämpferin für Demokratie und Menschenrechte überschwänglich vor allem von westlichen Politikern und Medien gefeiert. Für die Lösung der ethnischen Konflikte in der Union von Myanmar gab sich Suu Kyi im September 2016 vor der Uno-Vollversammlung optimistisch.
„Ethnischer und religiöser Hass“
Das galt nicht nur für die unruhigen nördlichen und nordöstlichen Regionen Kachin, Shan oder Karen. Selbst die westliche, an Bangladesh angrenzende Region Rakhine mit einer buddhistischen Mehrheit und einer ein-Millionen-starken Minderheit der moslemischen Rohingyas war eingeschlossen. Im Rakhine-Staat, so damals die burmesische Staatsrätin, werde eine Lösung des „ethnischen und religiösen Hasses“ gefunden werden. Das werde „zu Frieden, Stabilität und Entwicklung für alle Gemeinschaften in Rakhine führen“. (Vgl. auch journal21.ch: Regimewechsel ohne Wunder, 21.3.2017, Das grosse Schweigen, 17.12.2016, Realpolitik, 24.09.2016).
„Systematische Attacken“
Ein Jahr danach herrscht Chaos im Rakhine-Staat. Kämpfer einer „Arakan Rohingya Salvation Army“ griffen Militär- und Polizeiposten an. Die Militärs gehen seit Monaten rücksichtslos gegen die in Myanmar rechtlosen muslimischen Rohingyas vor. In der neuesten Flüchtlingswelle sind über 350’000 über die nahe Grenze nach Bangladesh geflohen. Der Menschenrechtsbeauftrage der Uno, Zeid Ra’ad Al Hussein, spricht von „systematischen Attacken“ der Militärs auf Rohingya-Zivilisten und „möglicherweise einer ethnischen Säuberung“. Die jetzige Militäraktion ist nicht etwa neu. Seit der Unabhängigkeit 1948 hat die Armee stets wieder brutal eingegriffen. Immer ging es gegen die muslimische Minderheit. 1978 sind 200’000, in den 1990er-Jahren 300’000 und 2016 70’000 Rohingyas geflohen, meist über die Grenze nach Bangladesh. Auch dort sind sie nicht willkommen. Inzwischen leben 1,5 Millionen Rohingyas im Exil, neben Bangladesh vor allem in Pakistan und Saudiarabien.
„Illegale Einwanderer“
In Myanmar haben Rohingyas keinerlei Rechte. Im Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 werden 135 Volksgruppen anerkannt. Darunter nicht die Rohingyas. Sie sind staatenlos, können sich in Burma nur beschränkt bewegen, können keinen Grundbesitz erwerben, sind in der Erziehung benachteiligt. In Myanmar werden sie – auch und gerade von Aung San Suu Kyi – nicht Rohingyas, sondern Bengali genannt. Sie sind mit andern Worten „illegale Einwanderer“ aus Bengalen, dem heutigen Bangladesh. Allerdings leben die meisten Rohingyas seit Generationen im Rakhine-Staat, zum Teil seit über zweihundert Jahren.
Historische Dimension
Staatsrätin Aung San Suu Kyi hat sich vor wenigen Tagen in einem Interview mit den Asian News International in New Dehli erstmals seit langem wieder zur Situation geäussert: „Es ist wenig sinnvoll, von uns zu erwarten, die Krise in 18 Monaten (seit Amtsantritt, die Red.) zu lösen.“ Zu Recht weist Suu Kyi auf die historische Dimension des Konfliktes hin: „Die Situation in Rakhine existiert seit Jahrzehnten und geht auf die britische Kolonialzeit zurück.“
In der Tat gab es im 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts, als auch Burma noch zu Britisch-Indien gehörte, innerhalb der Kolonie grosse Migrationsströme. Doch schon zuvor ist es zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zu Ansiedlungen von Rohingyas und andern muslimischen Bengalen gekommen. Das gilt besonders für das Königreich Arakan im 18. Jahrhundert, das auch den heutigen Rakhine-Staat umfasste. Der Begriff „Rohingya“ wird seit den 1950er Jahren verwendet. Die Herkunft der Rohingyas freilich ist umstritten. Arabische Händler – Vorfahren der heutigen Rohingyas – sollen vor rund tausend Jahren im heutigen indischen Subkontinent Handel getrieben und sich niedergelassen haben. Der Name Rohinga taucht so erstmals am Ende des 18. Jahrhunderts auf.
„Kauft nicht bei Muslimen!“
Im mehrheitlich buddhistischen Staat Rakhine hat der Rohingya-Konflikt neben der Religion auch eine ethnisch-soziale Seite. Die Buddhisten fühlen sich von den „Bengali“ bedroht. Die Muslime, so die Furcht, hätten das Ziel, Rakhine und ganz Myanmar zu islamisieren. Das nützen buddhistische Nationalisten aus. Sie warnen vor einer „drohenden Islamisierung des Landes“. Angeführt vom buddhistischen Mönch Ashin Wiratu wird im Internet und auf Flugblättern aufs Übelste gegen die winzige 4-Prozent-Minorität der Muslime in Myanmar gehetzt. Wiratu sass jahrelang im Gefängnis wegen Volksverhetzung. Notabene noch zu Zeiten der Militärs. Unter der neu erlangten Freiheit der Presse ist jetzt offenbar alles erlaubt. „Kauft nicht bei Muslimen!“ ist einer unter vielen Anti-Muslim-Slogans derzeit in Myanmar. Unterwegs in Myanmar hört man denn nicht selten von ethnischen – hellhäutigen – Burmesen, sie hätten Angst vor den dunkelhäutigen „Bengali“.
Militärs haben alles im Griff
Viele Bewunderer von Aung San Suu Kyi im Westen fragen sich heute, warum sie denn noch immer schweige. Die Antwort ist einfach: sie ist Realpolitikerin geworden. Ein offenes Eintreten für die Rohingyas wäre der politische Tod. Bei den nächsten Wahlen 2020 möchte Suu Kyi mit der Nationalen Liga für Demokratie nochmals siegen mit der Aussicht, dannzumal die Militärs endgültig von der Macht zu verdrängen. Heute nämlich haben die Militärs alles nach wie vor fest im Griff. Nicht nur bestimmen sie selbst ein Viertel des Parlaments und können so eine Verfassungsänderung verhindern. Vielmehr besetzen sie die entscheidenden Ministerien des Innern, des Grenzschutzes und der Verteidigung. Staatsrätin und Aussenministerin Aung San Suu Kyi hat vorerst also keine Wahl. Ihr sind die Hände gebunden.
Politik mit hohem Risiko
Der verständliche Ruf nach Entzug des Friedens-Nobelpreises – auch von einigen Nobelpreisträgern – ist deshalb (noch) verfehlt. Der internationale Protest ist wirkungslos. Aung San Suu Kyi politisiert derzeit mit extrem hohem Risiko. Die moralische Autorität eines Nelson Mandela hat sie längst verloren. Falls sie einst ohne den Druck der brutalen, skrupellosen Militärs regieren kann, könnte sie mit einem mutigen Schritt auf die Rohingyas zu diese Autorität wiedergewinnen. Immerhin hat sie während ihrer langen Zeit im Gefängnis und unter Hausarrest mit persönlichem Mut und Integrität bewiesen, dass Menschenrechte und Demokratie erkämpft werden müssen.
„Wir beten für Sie“
Der südafrikanische Friedensnobel-Preisträger Erzbischof Desmond Tutu gab seinem „Horror“ vor den „ethnischen Säuberungen“ in Myanmar Ausdruck. Er appellierte in bewegten Worten an Suu Kyi: „Wir beten für Sie, damit Sie sich für Gerechtigkeit, Menschenrechte und Einheit Ihres Volkes einsetzen werden. Wie beten für Sie, damit Sie in dem eskalierenden Konflikt intervenieren werden.“ Der Gedanke, dass eine ethnische Säuberung unter den Augen einer Friedensnobel-Preisträgerin brutal zu Ende gebracht wird, ist unerträglich.
Ein anderer Friedensnobelpreisträger mag im buddhistischen Myanmar mehr Wirkung erzielen. Der Dalai Lama unterstrich in einer Intervention die buddhistischen Prinzipien der Gewaltlosigkeit, des Mitgefühls und der Fürsorge. Der Rat des Dalai Lama, Friedensnobelpreisträger 1989, an Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin 1991: „Buddha hätte sich für die Rohingyas eingesetzt.“