Der Fall des zehnjährigen Opfers einer Vergewaltigung in Ohio zeigt auf, wie dramatisch die Folgen eines Urteils des Obersten Gerichts sein können, das Recht auf Abtreibung landesweit aufzuheben. Herausgefordert durch die veränderten Verhältnisse sind nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch die Medien.
Wenn eine Geschichte zu gut ist, um wahr zu sein, heisst es, dann ist sie wahrscheinlich nicht wahr. Vor allem dann nicht, wenn ihre Botschaft persönlichen Vorurteilen und politischen Überzeugungen widerspricht. Was aber, wenn sich eine spektakuläre Geschichte als wahr herausstellt, wie Anfang Juli im Fall eines 10-jährigen Mädchens im US-Bundesstaat Ohio, das nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war und im Staat nicht abtreiben lassen durfte? Dies, weil Amerikas Oberstes Gericht am 24. Juni 2022 das Recht auf Abtreibung ausser Kraft gesetzt hatte und Ohio einer der ersten Staaten war, der das umstrittene Urteil umgehend umsetzte.
Bericht im «Indianapolis Star»
Es war der «Indianapolis Star», eine Lokalzeitung, die als erste über das Schicksal des Mädchens berichtete. Sie stützte sich auf Informationen einer Gynäkologin in Indianapolis (Indiana), welche die Abtreibung aufgrund des Hinweises einer Ärztin in Ohio, die auf Kindsmissbrauch spezialisiert ist, vorgenommen und pflichtgemäss den Behörden gemeldet hatte. Abtreibungsgegnern aber missfiel die Story, bestätigte sie doch Bedenken, die Abtreibungsbefürworter nach dem Entscheid des Supreme Court geäussert hatten: Dass es für Betroffene selbst in Fällen von Vergewaltigung oder Inzucht schwierig werden könnte, ärztliche Hilfe zu erhalten.
Gleichzeitig war die Geschichte des «IndyStar» zu gut, um nicht auch von den nationalen Medien aufgenommen zu werden – zumindest um die Seriosität der Lokalzeitung zu hinterfragen und deren Professionalität in Zweifel zu ziehen. Die liberale «Washington Post» gab relativ nüchtern zu bedenken, die Story beruhe auf lediglich einer Quelle und der «IndyStar» habe es anscheinend versäumt, gründlichere Recherchen anzustellen: «Diese Geschichte ist äusserst schwierig zu checken.»
Das Urteil des «Wall Street Journal»
Das konservative «Wall Street Journal» hingegen hatte weniger Beisshemmung. Unter dem Titel «Eine Abtreibungsgeschichte, die zu gut ist, um wahr zu sein» stufte das Wirtschaftsblatt den Artikel des «Indy Star» als «phantastisch» und «unwahrscheinlich» ein und kritisierte Präsident Joe Biden dafür, bei einem Auftritt das zehnjährige Vergewaltigungsopfer nicht namentlich genannt zu haben: «Allerlei abstruse Geschichten machen derzeit in sozialen Medien die Runde, aber man würde nicht erwarten, dass sie im Weissen Haus Gehör finden.»
Wenig überraschend war es der Fernsehsender Fox News, der die Glaubwürdigkeit des «Indy Star» am nachhaltigsten zu untergraben suchte. Moderator Jesse Watters bezeichnete die Story zwar nicht von vornherein als falsch, äusserte aber gravierende Zweifel: «Falls diese schreckliche Story nicht stimmt und die Abtreibungsärztin und der Indianapolis Star uns täuschen und sowohl die Mainstream-Medien als auch der Präsident der Vereinigten Staaten auf einen dummen Scherz hereinfallen, dann ist das absolut schändlich und passt in ein gefährliches Schema politisch motivierter Desinformation.» Moderatorin Emily Compagno warf Andersdenkenden vor, reale Abtreibungen zu ignorieren, um ihre Sache zu fördern: «Was ich zutiefst widerwärtig finde, ist der Umstand, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch erfinden.»
Kein Wunder auch, dass konservative Politikerinnen und Politiker die Geschichte aufgriffen als einen Beweis dafür, wie Abtreibungsbefürworter versuchten, das Oberste Gericht zu diskreditieren. «Buchstäbliche #Fake News von liberalen Medien», twitterte Süd-Dakotas republikanische Gouverneurin Kristi Noem. Selbst Ohios Generalstaatanwalt Dave Yost nährte in einem Zeitungsinterview Zweifel. «Es gibt nicht die Spur eines Beweises», sagte der Republikaner: «Schande über die Zeitung in Indianapolis, die dieses Ding basierend auf einer einzigen Quelle publiziert hat und offensichtlich eine politische Agenda verfolgt.»
Die Zweifel lösen sich auf
Doch alle Zweifel lösten sich in Luft auf, als der «Columbus Dispatch» in Ohio, ebenfalls eine Lokalzeitung des Medienkonzerns Gannett, wenig später vermeldete, dass die Polizei in der Hauptstadt Columbus einen 27-Jährigen namens Gerson Fuentes festgenommen und der Vergewaltigung einer unter 13-Jährigen angeklagt hatte. Laut Ermittlern gestand der Verhaftete die Tat.
Worauf sich der Fact-Checker der «Washington Post» näher erklärte und sich die Leitartikler des «Wall Street Journal» halbherzig entschuldigten: «Es macht den Anschein, dass Präsident Biden Recht hatte, als er sich auf eine Geschichte über ein zehnjähriges Mädchen aus Ohio bezog, das vergewaltigt wurde und zu einer Abtreibung nach Indiana reiste. Wir haben uns noch vor wenigen Tagen über den Fall gewundert, nachdem niemand seine Richtigkeit oder irgendeine amtliche Verlautbarung bestätigt hatte, obwohl die Geschichte fast zwei Wochen lang in den sozialen Medien präsent war.»
Fox News dagegen schoss sich umgehend auf den Täter ein, statt Empathie für das zuvor angeblich inexistente Opfer zu zeigen. Ohne eine Unschuldsvermutung zu äussern, teilte Starmoderator Tucker Carlson seinem loyalen Publikum mit, der Vergewaltiger der Zehnjährigen sei ein «illegaler Immigrant» (was lediglich eine Vermutung war) und bestätigte so ein von seinem Sender und Donald Trump wiederholt geschürtes Vorurteil gegenüber Einwanderern aus Mexiko und Zentralamerika.
«Unvorstellbare Abtreibungsgeschichten», auch wenn sie nur auf einer einzigen Quelle beruhten, würden in Zukunft häufiger publik werden, schreibt Laura Hazard Owen, Redaktorin des Newsletters «NiemanLab» der Universität Harvard: «Nach dem Ende von Roe v Wade wird eine einzige mutige Quelle für eine Geschichte häufig das Beste sein, was sich erreichen lässt. Trotzdem müssen Reporter und Redaktoren sicherstellen, dass ihre Berichte akkurat und wahr sind.» Zahllose Abtreibungsgeschichten, so Hazard Owen, würden nie erzählt werden: «Das wird nicht der Fall sein, weil sie auf Lügen basieren.»
Auch Lokalzeitungen können seriösen Journalismus bieten
Es werde so kommen, prophezeit die Journalistin, weil es zu gefährlich sei, solche Geschichten zu erzählen, weil Patientinnen, Ärztinnen, Pflegende und Freiwillige verhaftet werden könnten, wenn sie sich äussern: «Die Fakten werden im Schatten weiter existieren. Die realen Leben der Frauen und Mädchen werden weitergehen. Selbst wenn ihre Geschichten ‘zu gut’ scheinen, um wahr zu sein. Auch wenn du dir wünschst, sie wären es nicht.»
Der Fall des «IndyStar» muss für Amerikas mitunter arrogante nationale Presse eine Lehre sein. Sie müssen anerkennen, dass nicht nur in New York oder Washington DC seriöser Journalismus betrieben wird, sondern auch von kaum bekannten Lokalzeitungen, denen zwar wirtschaftlich häufig das Wasser bis zum Hals steht, die ihren Dienst an der Öffentlichkeit aber nach wie vor engagiert erfüllen, ausgedünnten Redaktionen, schrumpfenden Budgets und sinkender Anerkennung zum Trotz. Es ist der Journalismus von Zeitungen, die sich mutig dagegen wehren, von Amerikas gefährlich sich ausbreitender Nachrichtenwüste, der sogenannten «news desert», verschlungen zu werden.