Das UNO-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag setzte damit für alle Zukunft ein Zeichen, das den Opfern dieses Kriegs – es sollen über hunderttausend sein – wenigstens eine gewisse Genugtuung verschaffen mag. Dennoch kann von einer erfolgreich abgeschlossenen Bewältigung der Vergangenheit keine Rede sein: Denn diese Grossverbrecher wurden von breiten Volksschichten unterstützt. Und in diesen Kreisen ist von einem echten Umdenken und von Einsicht nach wie vor wenig zu spüren.
Als Berichterstatter im Jugoslawien- und Bosnienkrieg für das Schweizer Fernsehen wurden wir immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass dieser Krieg nicht der Krieg von ein paar wenigen Verbrechern war. Im Gegenteil: Er wurde von breiten Volksschichten getragen, wahrscheinlich sogar von einer Mehrheit der Bevölkerung. Und zwar auf allen Seiten – auf der serbischen, auf der kroatischen und auf der Seite der Bosniaken (der moslemische Bevölkerung Bosniens).
Von allen Seiten wurden Verbrechen begangen – nicht nur von den Serben, wie oft suggeriert wurde. Dass die Serben letztendlich die schlimmsten waren, hat vor allem damit zu tun, dass sie militärisch überlegen waren, weil die jugoslawische Armee bei Kriegsbeginn von ihnen usurpiert wurde. Sie wurde damit zum Hauptinstrument der auf ein Grossserbien gerichteten Politik.
So waren die Serben imstande, das kroatische Vukovar dank ihrer überlegenen militärischen Macht unter ihre Kontrolle zu bringen. Anschliessend richteten sie unter den in der Stadt verbliebenen Kroaten (unter anderem im Spital) ein fürchterliches Blutbad an.
Mit ein paar Helikoptern hätte die UNO Mladic unschädlich machen können
Ähnlich verhielt es sich in Sarajevo. Die Serben vermochten mit ihren militärischen Mitteln die Stadt während Jahren zu belagern. Vor allem auch dank ihrer Artillerie, die sie auf den Bergen rund um Sarajevo stationiert hatten.
Dass sie es nie schafften, den Stadtkern zu erobern (oder es nie ernsthaft versucht haben), hat immer erstaunt, wenn man sah, wie nahe sie am Stadtzentrum standen. Oft war man als Journalist in Sarajevo nur ein paar hundert Meter von den serbischen Schützengräben und Stellungen entfernt. Sich in dieser Stadt zu bewegen, um zum Beispiel über die sogenannte Sniperstreet zum Feedpoint des Fernsehens zu kommen, war immer mit Lebensgefahr verbunden, sogar in den leicht gepanzerten Fahrzeugen, über die wir verfügten.
In Srebrenica schliesslich griffen die Serben unter der Führung von Mladic mit ein paar wenigen Panzern an. Eine entschlossene UNO hätten sie mit ein paar Kampfhelikoptern oder Kampfflugzeugen noch vor Erreichen der Stadt unschädlich machen können. Aber man wollte dies offenkundig nicht. Über die Gründe und Hintergründe ist viel diskutiert worden. Wo die Wahrheit liegt, ist wohl noch immer nicht geklärt.
Da wo die Kroaten oder die Bosniaken militärisch die Oberhand hatten, waren die Methoden der Kriegsführung und der anschliessenden „ethnischen Säuberung“ kaum weniger brutal und unmenschlich.
Als Beispiel mag die Rückeroberung der Krajina durch die kroatische Armee in der Endphase des Kriegs dienen. Die Serben in der Krajina hatten den von den Amerikanern aufgerüsteten Kroaten nichts entgegenzusetzen. Sie waren schlecht oder gar nicht vorbereitet. Sie hatten für ihre Panzerabwehrstellungen nicht einmal Gräben ausgehoben, sondern einfach da und dort ein paar Tonnen Kies auf die Strasse gekippt.
Der „Krieg“ war nach ein paar Stunden entschieden. Fast die gesamte serbische Bevölkerung floh – was auch das Kriegsziel Kroatiens war, wie der Prozess gegen Ante Gotovina vor dem Gericht in Haag kürzlich gezeigt hat. Die wenigen Greise und Hirten, die in der Krajina geblieben waren, weil sie gar nicht merkten, was vor sich ging oder nicht zu fliehen vermochten, wurden schikaniert, ihre Häuser geplündert und angezündet.
Nie mehr sollten Serben in der Krajina leben können! An ein paar wenigen Orten – zum Beispiel in Bugojno – hatten die Bosniaken die Oberhand gewonnen. Zuerst wurden die Serben vertrieben und als die anfänglich gemeinsame Front von Kroaten und Bosniaken auseinanderfiel, wurden auch die Kroaten verjagt.
Ihre Kirchen und Gräber wurden geschändet. Wer in der Stadt blieb, konnte seines Lebens nicht sicher sein. Das Geschäft eines kroatischen Radio- und Fernsehhändlers, den wir hinter heruntergezogenen Rollläden interviewt hatten, wurde einen Tag nach Ausstrahlung unseres Beitrags in der Schweiz mit einer Panzermine in die Luft gesprengt. (Hat es einen Telefonanruf aus der Schweiz gegeben?) Auch der Annex im Pfarrhof, wo wir geschlafen hatten, flog in die Luft. Opfer gab es keine. Selten haben wir uns in Bosnien so unsicher gefühlt wie bei unserem zweiten Besuch in Bugojno ein paar Monate später. Wir ahnten, dass jederzeit etwas geschehen könnte. Geschlafen haben wir nicht mehr in der Stadt.
Ein paar hundert Mark für Sonja Karadzic
Offiziell wurden Kriegsverbrechen immer in Abrede gestellt – von allen Seiten. Berichtete man darüber, wurde man der Lüge bezichtigt. Gleichzeitig war für mich immer offenkundig, dass die Leute eigentlich sehr genau wussten, wie man in diesem Krieg mit dem Feind umgeht. Und wie der Feind mit einem umgehen würde, wenn die Machtbalance kippt. Die Verbrechen wurden auch gerechtfertigt – mit den behaupteten oder tatsächlichen Verbrechen der Gegenseite. So wurde die Zerstörung der serbisch-orthodoxen Kirche in Knin in der Krajina damit begründet, dass bei der Machtübernahme der Serben die kroatische katholische Kirche zerstört wurde. Die Vertreibung der Serben wurde mit der Vertreibung der Kroaten gerechtfertigt.
Als es uns nach dem Massaker an den Männern in Srebrenica gelang, die Stadt zu besuchen (dank der Zahlung von ein paar hundert Mark in die Kasse von „Informationsministerin“ Sonja Karadzic, der Tochter von Radovan Kradzic), waren eben die ersten Serben in die Häuser eingezogen, die den vertriebenen Bosniaken gehört hatten. Das gesamte Inventar hatte man auf die Strasse geworfen – Puppen, Familienbilder, Decken, Möbel, Kleider. Ein Schaufelbagger schob alles zusammen und lud es auf einen Lastwagen.
Ohne Mladic wären die Leute von Maden gefressen worden
Freundlich wurden wir zu einer Familie eingeladen. Kaffee und Kuchen wurde aufgetischt. Der Mann sass etwas abseits in der Küche, die Frau des Hauses führte das Wort. Es gäbe keinen Grund, mit diesem Pack, das früher in diesem Haus gewohnt habe, Mitleid zu haben, sagte sie. Alles sei unsäglich schmutzig gewesen. Wenn Mladic nicht gekommen wäre, wäre diese Leute von Maden und Käfern gefressen worden.
Wie so oft in solchen Fällen war die Familie selber vertrieben worden: von Bosniaken in der Gegend von Sarajevo. So gab es nie Grund, darüber nachzudenken, ob es recht oder unrecht ist, in das Haus einer vertriebenen Familie einzuziehen. Man war ja selber Opfer.
Viel ist darüber diskutiert worden, wie kläglich die holländischen Truppen versagten, als Mladic anrückte. Viel weniger wurde erörtert, warum es so lange dauerte, bis die Weltgemeinschaft bereit war, militärisch einzugreifen. Als man es dann endlich doch tat, ging alles sehr schnell. Ein paar wenige hochmoderne Geschütze der Franzosen genügten, um die Artillerie der Serben rund um Sarajevo zum Schweigen zu bringen. Denn nach jedem Schuss der Serben, schossen die Franzosen innerhalb von wenigen Minuten metergenau zurück.
Und Radovan Karadzic schnaubte in einem Interview im von den Kroaten eingeschnürten Banja Luka, die Westallianz agiere als die Luftwaffe der Kroaten. Mal für Mal flogen die Jets der Amerikaner im Tiefflug über die Stadt. Karadzic schien zu verstehen, dass das Spiel für ihn eine neue, fatale Wende genommen hatte. Der Traum vom Grossserbien war ausgeträumt.
Von Srebrenica etwas gelernt?
Warum kam diese Wende so spät? Weil die westlichen Generäle und Politiker das militärische Potential der Serben massiv überschätzten und weil insbesondere die Linke und die Grünen in Europa glaubten, der Konflikt sei mit Diplomatie zu lösen. Friedensfrauen – auch in der Schweiz – glaubten an die Macht der Worte und des Guten Willens.
Der Einsatz von militärischer Gewalt, um das Morden und die ethnische Säuberung in Bosnien zu stoppen, wurde abgelehnt. Die UNO errichtete „Schutzzonen“ (unter anderem jene von Srebrenica). Doch als es ernst wurde, war sie nicht bereit, diese zu verteidigen. Und die Diplomatie liess sich Mal für Mal von Milosevic und Karadzic über den Tisch ziehen.
Auch diese Dinge sind nie aufgearbeitet worden. Keine Friedensfrau hat für ihre fatalen Fehleinschätzungen Verantwortung übernommen. Kaum ein Diplomat hat bekannt, dass man es damals an Klarsicht, Mut und Konsequenz fehlen liess. Und dass deswegen Tausende umgekommen sind (unter anderem in Srebrenica) und Millionen aus ihren angestammten Dörfern und Städten vertrieben wurden.
Zum Teil führten die Erfahrungen des Jugoslawien- und Bosnienkriegs zu einem Umdenken. In Kosovo wurde relativ schnell eingegriffen, in Libyen im letzten Moment ebenfalls. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass die Welt aus Srebrenica, Sarajevo und Vukovar doch etwas gelernt hat.