Eigentlich heisst ja die Stadt auf unserem Bild ar-Rafiqa („die Begleiterin“): der Abbasiden-Kalif al-Mansur gründete sie im Jahr 772 einige Steinwürfe weit von der hellenistisch-römisch-byzantinischen Stadt entfernt, die seit der arabischen Eroberung ar-Raqqa hiess. Von dem spätantiken ar-Raqqa gibt es nur noch Spuren. In der abbasidischen Schwesterstadt wirkt der kreisrunde, den Kosmos abbildende Grundriss Bagdads nach: der gewaltige Mauerring beschreibt einen hufeisenförmigen Bogen, dessen Öffnung vom Ufer des Euphrat geschlossen wird. Mit ihrer wachsenden Bedeutung an einem Kreuzweg wichtiger Handelsstrassen emanzipierte sich „die Begleiterin“ bald auch dem Namen nach. Jetzt wurde sie ar-Raqqa, während die spätantike Stadt Namen und Rang verlor. Kalif Harun ar-Raschid machte Raqqa von 796 bis 808 zu seiner Residenz, zwölf Jahre lang war es so das Verwaltungszentrum des abbasidischen Grossreichs.
Raqqa wurde als Festungsstadt an der Grenze zum byzantinischen Imperium konzipiert. Die Stadtmauer ragte über 18 Meter auf und ist mehr als 6 Meter mächtig. Backsteine ummanteln einen Kern aus ungebrannten Lehmziegeln. Etwa alle 25 Meter springen turmähnlich halbrunde Risalite zur flankierenden Bekämpfung von Angreifern vor. Von der urspünglich 4,5 Kilometer langen Mauer sind über 3 Kilometer erhalten, von den einst 132 Türmen stehen noch 75. Die Grosse Moschee („Freitagsmoschee“) im Stadtzentrum zeigt in der Bautechnik Ähnlichkeiten mit den Festungsbauten: ein mit Backsteinen verblenderter Kern aus Lehmziegeln. Den Grundplan der Anlage wie auch die ausgiebige Verwendung von Ziegeln statt von Hausteinen begreifen Architekturhistoriker als Nachhall aus mesopotamischer Zeit. Die Moschee ist jetzt Ruine, ihre Bethalle war ursprünglich überdacht.
Bei Ausbruch der syrischen Kriegswirren hatte Raqqa nahezu 300 000 Einwohner; im Flüchtlingsstrom seither ist es zu einer Millionenstadt angeschwollen. Dieser Stadtmoloch ist zurzeit ungemildert dem mörderischen Regime der radikal-sunnitischen Jihadisten „Islamischer Staat“ ausgeliefert, die in Raqqa die Hauptstadt ihres Kalifats sehen. Dem Vernehmen nach halten zwar die Besetzer die städtische Infrastruktur – Wasser- und Stromversorgung, Verkehr – einigermassen aufrecht, d.h. sie mischen sich bei den Betreibern nicht ein. Aber seit 2013 entehren und demolieren sie schiitische Moscheen, richten Andersgläubige hin, entweihen als eingeschworene Ikonoklasten christliche Kirchen, auferlegen den letzten in Raqqa ausharrenden Christen ein Kopfgeld, schliessen Schulen, zerstören die Grabmäler der Sufis auf Stadtgebiet. Und als zynischer Clou: offenbar bedienen sie sich ungeniert in Raqqas Museen, der Verkauf von archäologischen Objekten auf dem Schwarzmarkt hilft ihren bilderstürmerischen Terror finanzieren. Raqqas kulturelle Substanz geht unwiederbringlich verloren, die einst angestrebte (und verdiente) Auszeichnung als Welterbestätte ist für immer verspielt. – Jahr des Flugbilds: 1997. (Copyright Georg Gerster/Keystone)