Die Strasse ist eng. Immer wieder Haarnadelkurven und immer wieder Stau. Die Autos stehen kreuz und quer am Strassenrand. Oben ist der riesige Parkplatz besetzt.
„Oben“ – das ist auf 2’100 Metern über Meer. Hier auf dem Gran Sasso d’Italia wurden Dutzende Filme gedreht, unter anderem „Der Name der Rose“ und „Vier Fäuste für ein Halleluja“.
Das langgezogene Plateau heisst „Campo Imperatore“. Es gehört zu den faszinierendsten Landschaften Italiens. Von hier aus führen Wanderrouten auf den „Corno Grande“. Mit 2912 Metern ist er der höchste Berg der Apenninen.
Jetzt herrscht auf dem Campo Imperatore Jahrmarktstimmung. Aus Lautsprechern plärrt lateinamerikanischer Pop. Schnitzereien, Knoblauch und Schafkäse werden verkauft, auch Linsen, die hier am Berghang wachsen. An langen Holztischen vergnügen sich Dutzende Menschen und trinken Wein und Bier, einige singen, einige grölen. Erschöpfte Bergsteiger, die vom Corno Grande zurückgekehrt sind, trocknen ihre verschwitzten Socken. An einem Stand wird „Porchetta“ verkauft, geröstetes Schwein. Die Motorradfahrer, in schwarzer Lederuniform, grüssen freundlich. Sie kommen aus Padua. Einer hat einen Totenkopf auf seinem T-Shirt.
Und da gibt es noch ein Hotel. Doch davon später.
Der Campo Imperatore ist nicht nur wegen der schönen Landschaft berühmt. Doch beginnen wir von vorn.
Die Schlinge zieht sich zu
Am 24. Juli 1943 trifft sich in der „Sala del Papagallo“ im Palazzo Venezia in Rom der faschistische Grossrat. Die Lage ist ernst. Die Alliierten sind eben auf Sizilien gelandet und stossen nach Norden vor. Die italienische Armee steht vor dem Zusammenbruch.
Der faschistische Rat macht Benito Mussolini für die hoffnungslose Lage verantwortlich und setzt ihn ab. König Vittorio Emanuele III. lässt ihn festnehmen. Jetzt landen die Alliierten bei Salerno. Die Schlinge zieht sich zu.
Hitler tobt. Er will den „Kampfraum“ Italien nicht preisgeben und schickt mehrere deutsche Divisionen über den Brenner. Jetzt wird Nord- und Mittelitalien von der Wehrmacht besetzt. Die Deutschen entwaffnen die italienischen Soldaten.
„Das höchstgelegene Gefängnis der Welt“
Pietro Badoglio, Mussolinis Nachfolger, fürchtet, die Deutschen könnten Mussolini befreien und wieder einsetzen. Also versteckt man ihn, zuerst auf der Insel Ponza vor Neapel und dann auf La Maddalena im nördlichen Sardinien. Doch die Deutschen sind ihm auf der Spur.
Ende August 1943 wird Mussolini auf den schwer zugänglichen Gran Sasso gebracht. Hier wird er im Hotel „Campo Imperatore“ gefangen gehalten. Bewaffnete italienische Carabinieri bewachen ihn.
Mussolini wird im Zimmer 201 im zweiten Stock einquartiert (heute: Zimmer 220). Lisetta Moscardi ist sein persönliches Zimmermädchen. Mussolini nennt seine Bleibe „das höchstgelegene Gefängnis der Welt“.
Befreiung
Für Italien ist der Krieg verloren. Badoglio schliesst mit den Alliierten einen Waffenstillstand. Doch Hitler will nicht aufgeben. Er lässt 600’000 italienische Soldaten festnehmen und deportiert sie nach Deutschland: zu Zwangsarbeit. Der König flieht nach Brindisi. Hitler sieht für Italien nur eine Lösung: Er will Mussolini wieder an die Macht bringen.
Anfang September fangen die Deutschen einen Funkspruch auf. So erfahren sie, dass sich der abgesetzte Duce auf dem Gran Sasso befindet. Am 12. September landen mehrere Lastensegler und ein kleines Motorflugzeug, ein Fieseler Storch, neben dem Hotel. Fernando Soleti, ein italienischer General, der sich in den Dienst der Deutschen gestellt hat, fordert das italienische Wachpersonal auf, keinen Widerstand zu leisten. Zehn Minuten später tritt Mussolini aus dem Hotel.
Mit dem Fieseler Storch wird er auf eine deutsche Luftwaffenbasis bei Rom geflogen.
Von Rom wird er via Wien und München zu Hitler in die Wolfsschanze bei Rastenburg gebracht.
„Republik von Salò“
Am 23. September 1943 setzt ihn Hitler als Staatschef der neu gegründeten „Republik von Salò“ ein. Die „Italienische Sozialrepublik“, wie sie offiziell heisst, ist ein von den Nazis beherrschter faschistischer norditalienischer Satellitenstaat. Mussolini wird am 28. April 1945 von kommunistischen Partisanen am Comersee erschossen.
Das Hotel Campo Imperatore war jahrelang eine Kultstätte für nostalgische Faschisten. Das Zimmer 201 wurde in ein kleines Museum umgewandelt. Man konnte es buchen, viele Neofaschisten schliefen dort.
Heute ist das Hotel geschlossen. Die rote Farbe an der Fassade blättert ab. In der Eingangshalle sind neue Matratzen gestapelt.
Klettert man auf die Terrasse, so sieht man im Innern einige Kübel mit Farbe. Ein Klavier steht verloren im ovalen, jetzt leeren Restaurant. Das Hotel soll mit drei Millionen Euro Staatsgelder in eine Fünf-Stern-Herberge mit Schwimmbad, Spa, Sauna, Bar und Luxusrestaurant verwandelt werden. Die Zimmer sollen im gleichen Stil renoviert werden, auch jenes von Mussolini. Ende nächsten Jahres soll es soweit sein. Im Moment ruhen die Arbeiten...
Die meisten Menschen, die sich rund um das Hotel tummeln, kommen nicht wegen Mussolini. Die Besitzer der Wohnmobile, die sich vor dem Albergo drängen, liegen halbnackt auf Liegestühlen. Viele haben ihre Katzen und Hunde mitgebracht, die hier herumspazieren. Da und dort hängt Wäsche. Am Abend wird grilliert, gesungen, gefeiert und viel getrunken.
Man kommt nicht nur mit dem Auto oder dem Motorrad hier hoch. Auch eine Seilbahn bringt Touristen und Berggänger in die Höhe. In der Bergstation, die neben dem Hotel liegt, befindet sich eine Bar, in der wilde Partys gefeiert werden.
Fragt man die Leute, weshalb sie hier sind, erwähnen sie die atemberaubende Aussicht. Mussolini? Die meisten wissen nicht, was sich hier 1943 abgespielt hat. „Ach, er war hier gefangen? Wusste ich gar nicht.“ Oder: „Mussolini, das ist vorbei.“
„So schlimm war er doch nicht“
Nicht nur hier oben will man nicht über Mussolini sprechen. Die Italiener tun sich noch immer schwer mit ihrer Vergangenheit. Der Duce ist in Italien nicht das Schreckgespenst, wie es Hitler in Deutschland ist. Italien hat seine faschistische Vergangenheit nur wenig aufgearbeitet. Immer wieder hört man: „Ja, Mussolini war ein Diktator, aber er hat auch viel Gutes gemacht.“ Es sind keineswegs nur Rechtsaussen-Leute, die so sprechen. Der Durchschnittsitaliener ist dürftig über die faschistische Zeit informiert. Mussolini? „So schlimm war er nun auch wieder nicht.“
Die Juden-Verfolgungen und der Rassismus seien ihm von Hitler aufgezwungen worden. „Er wollte doch nur das Beste für unser Land.“ Es sind auch Junge, Studenten und Intellektuelle, die so sprechen. Da hört man: „Ja, er war ein Diktator, aber ein Diktator gegen seinen Willen.“
Der „gutartige“ Mussolini
Zahlreiche Geschichtsfälschungen geistern durchs Land. Hitler sei der erste Faschist gewesen, Mussolini hätte ihm folgen müssen. Tatsache ist, dass Mussolini zehn Jahre vor Hitler zu wüten begann. Ferner werden die Deutschen, die nach Mussolinis Sturz weite Teile Italiens besetzten, für alle Verbrechen verantwortlich gemacht. Dass die italienischen Faschisten ein Terrorregime errichteten und Hunderttausende umbrachten, wird kaum erwähnt. Auch Berlusconi sagte, das Mussolini-Regime sei „gutartig“ gewesen, der Diktator selbst habe „niemanden ermordet“.
Hier oben ist Mussolini tabu. Niemand will über ihn sprechen. „Lasst mich doch in Ruhe mit Mussolini“, heisst es. Fast nichts erinnert daran, dass hier Historisches geschah. Verkaufsstände mit faschistischen Andenken gibt es hier nicht. Solche findet man in Predoppio in der Emilia-Romagna, wo Mussolini geboren wurde und begraben ist. Und man findet sie immer häufiger auf Antiquitäten- und Flohmärkten: Helme, Fotos des Duce, Orden, Uniformen, Kriegsgeräte. Hier oben, nichts dergleichen: Hier oben gibt es Knoblauch und Linsen.
Und dennoch: ganz „Faschisten-frei“ ist der Gran Sasso nicht. Immer wieder, wenn das Touristenheer verschwunden ist, kommen kleine neofaschistische Gruppen, meist mit Motorrädern oder der Seilbahn. Sie zünden Kerzen an, singen faschistische Lieder und strecken den Arm zum Römischen Gruss. So erzählen es Seilbahn-Angestellte.
Augen zu
Doch eine Kultstätte, ein Mekka des Neofaschismus, ist der Campo Imperatore nicht. Auch wenn der Mussolini-Mythos noch in vielen Italienern und Italienerinnen schlummert: Die Gefahr, dass das Land wieder in den Faschismus abrutscht, ist heute gering. Dafür sind die demokratischen Institutionen, trotz schrecklicher Defizite, allzu intakt – dies, obwohl da und dort Faschisten wieder aus den Löchern kriechen. Und obwohl Salvinis Lega offen mit Rechtsradikalen flirtet. Und obwohl die postfaschistische Partei auf sieben Prozent der Stimmen kommt.
Hier oben heisst es: Die hinreissende Aussicht geniessen und: Augen zu vor der Vergangenheit! „Mussolini, geht mich nichts an.“
Das einzige, was hier an den Diktator erinnert, ist eine unscheinbare Plakette am Eingang des „Albergo Campo Imperatore“:
„In diesem Hotel wurde Benito Mussolini vom 28. August bis zum 12. September 1943 gefangen gehalten.“