Während Nordkoreas «junger General» Kim Jong-un eine Rakete nach der andern in den ostasiatischen Himmel steigen lässt und damit weltweit diplomatische Ratlosigkeit, Furcht und Schrecken verbreitet, ist abseits der Schlagzeilen ein heisser Konflikt – vorläufig – entschärft worden.
Dass dieser indisch-chinesische Konflikt im Himalaya auf über dreitausend Metern über Meer in den westlichen Medien, wenn überhaupt, meist im Kleingedruckten abgehandelt worden ist, hat wohl auch damit zu tun, dass Online-Redaktoren in Newsrooms wohl nicht falsch liegen, wenn sie annehmen, dass Nachrichten über Raketen, abgeschossen von einem Diktator mit komischer Frisur, höhere Klickzahlen erreichen als News über dröge Rempeleien und hin und wieder klatschende, saftige Ohrfeigen. Wieweit dabei Nordkorea in der Atom- und Raketentechnologie ist, spielt wohl im digitalen Nachrichten-Journalismus keine Rolle. Experten gibt es für alles und jedes …
McMahon-Linie
Zu hangreiflichen Übergriffen ist es seit Juni auf dem Doklan-Plateau (chinesisch: Gonglang) zwischen China und Indien immer wieder gekommen. Die Waffen blieben gesichert. Der Ton wurde allerdings sowohl in Indien als auch in China immer schriller. Auch an andern Punkten der über dreitausend Kilometer langen Grenze kam es zu kleineren Zwischenfällen. Der Grenzkonflikt ist über hundert Jahre alt und äusserst komplex. 1914 handelte der Aussenminister von Britisch-Indien, Sir Henry McMahon, die Shimla-Konvention aus. Danach wurde das Grenzgebiet markiert.
Die sogenannte McMahon-Linie teilt China, beziehungsweise Tibet, von Indien. China anerkannte diese Grenzlinie nie, sondern betrachtete die auch als „Line of Actual Control“ (LAC) bekannte Grenze als vorläufig. Indien dagegen erklärte die McMahon-Linie als permanent und lehnt es deshalb ab, mit China darüber zu verhandeln.
Krieg 1962
Neben dem Doklan-Plateau im Sikkim-Sektor ist vor allem ein grösseres indisches Gebiet im Osten umstritten. Die Provinz Arunachal Pradesh wird von China als tibetisches Gebiet beansprucht. Im Westen wiederum wird Aksai Chin im zwischen Pakistan und Indien geteilten Kashmir von China reklamiert.
Da Indien auch unter Premier Nehru, der ansonsten gute Beziehungen zu China pflegte, nicht über die «permanente» Grenze verhandeln wollte, kam es 1962 zum ersten und bislang einzigen Waffengang. Indien wurde im einmonatigen Krieg vernichtend geschlagen. Noch einmal stand Indien 1987 vor einer bewaffneten Auseinandersetzung.
Buthan zwischen Grossmächten
Beim jetzigen Konflikt auf dem Donglang-Plateau an der Dreiländerecke China–Indien–Buthan beschuldigte China Indien, Truppen in Stellung gebracht zu haben, um den chinesischen Strassenbau zu verhindern. Indien dagegen bezeichnete das Doklan-Plateau als Hoheitsgebiet Buthans. Das Königreich ist mit Indien eng verbunden. Grössere indische Truppenverbände sind dort stationiert.
Buthans König und Regierung äusserten sich kaum, und wenn, sehr zurückhaltend zum Grenzkonflikt. Nicht von ungefähr, liegt das Königreich doch zwischen zwei regionalen Supermächten. Buthan will zudem nicht wie vor Jahrzehnten das gleiche Schicksal wie das nahe Sikkim erleiden und von Indien annektiert werden.
Gereizter Ton
Der beidseitig gereizte und immer bedrohlichere Ton deutete laut Kommentatoren der Region auf einen baldigen Krieg hin. Er werde möglicherweise nicht lokal begrenzt sein, sondern sich auf all die umstrittenen Grenzgebiete sowie auf den Indischen Ozean ausdehnen. Besonders ein maritimer Krieg sei wahrscheinlich. Indien hat relativ starke Seestreitkräfte. China wiederum versucht seit der Jahrhundertwende, seinen Einfluss auch auf den Indischen Ozean auszudehnen.
In Burma und Pakistan enden Oel- und Erdgas-Pipelines, in Sri Lanka ist China am Ausbau von auch strategisch nutzbaren Hafenanlagen beteiligt. Rund achtzig Prozent des Erdölbedarfs erreicht China über den Indischen Ozean, ein beträchtlicher Teil wird gar über die Strasse von Malakka – an der engsten Stelle gerade einmal 1,7 km breit – transportiert.
Mythen für den Hausgebrauch
Indien und China – immerhin Atommächte – einigten sich Ende August auf den Rückzug der Truppen vom umstrittenen Donglang-Plateau. Die Kriegsgefahr ist – vorerst – gebannt. China freilich wird auch in Zukunft darauf drängen, dass über einen permanenten, definitiven Grenzverlauf verhandelt wird.
Das wird für beide asiatischen Grossmächte schwierig, denn seit Jahrzehnten werden zum innenpolitischen Hausgebrauch Mythen gebildet über den jeweiligen Feind. Eine historische Aufarbeitung der Vergangenheit ist dies- wie jenseits der McMahon-Linie dringend gefragt.
Friede und Stabilität
Dass der Friede so schnell zustande gekommen ist, hat wohl insbesondere in China innenpolitische Gründe. Am 18. Oktober beginnt der alle fünf Jahre stattfindende Parteikongress der Kommunistischen Partei. Dafür braucht es international Frieden und innenpolitische Stabilität. Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping bereitet sich für eine zweite fünfjährige Amtszeit vor.
So wie es von aussen aussieht, hat Xi bislang alles richtig gemacht. Innenpolitisch setzt er Stabilität mit Zuckerbrot und Peitsche durch. Als Staatsmann hat er sich international profiliert und China Statur verschafft. Als Militärchef hat er die Militärs den Tarif durchgegeben und neue Kommandanten ernannt. Als Parteichef hat er wohl in den traditionellen Badeferien in Baidaihe am Ostchinesischen Meer die personellen Weichen gestellt, um die Erneuerung des Zentralkomitees, des Politbüros und vor allem des Ständigen Politbüro-Ausschusses in seinem Sinne zu gestalten.
Aber eben: Auch der Burgfriede auf dem Donglang-Plateau gehört zu den Vorbereitungen. Ein Krieg im Himalaya mit Ohrfeigen, Rempeleien, Gewehren oder noch mehr ist für das grosse kommunistische Powwow in China schlicht undenkbar.