Als Erster hat sich Pakistans Bilawal Bhutto zu Wort gemeldet; in Bangladesch geht der Sohn von Premierministerin Sheikh Hasina in die Startlöcher. Und vor einer Woche wurde Rahul Gandhi per Akklamation zum Vizepräsidenten der indischen Kongresspartei gekürt. Es ist acht Jahre her, seitdem der heute 42-Jährige auf Wunsch von Mutter Sonia Wohnsitz und Finanzjob in London aufgab und nach Indien zurückkehrte. Sie schickte ihn als Leiter des Jugend-Kongresses ins Rennen, um sich für die Stabsübergabe vorzubereiten, die vierte Generation in der Nehru-Gandhi-Dynastie.
Es war Rahul sichtlich nie wohl in dieser politischen Haut. Er meidet das Rampenlicht, ist linkisch in seinem Auftreten. Statt Staatsbesuchern die Hände zu schütteln, fährt er lieber in Jeans und Joggingschuhen durch Dörfer. Doch das Bad in der Menge ist nicht seine Sache, und im Gegensatz zu seiner Schwester Priyanka kommt es bei seinen Auftritten nie zum berühmten ‚Funkensprung‘. Zweimal übernahm er bei Regionalwahlen die Führung des Wahlkampfs, und beide Male landete die Partei weit im Abseits.
Korrupte reden von der Ausrottung der Korruption
Bei seiner Kür vor einer Woche gab Rahul Gandhi dann wider Erwarten einen guten Einstand. Er hielt eine emotionale Rede, in der er seine Partei an ihre Mission erinnerte, dem Volk „eine Stimme zu geben“. Die Unabhängigkeitsbewegung Indiens habe statt mit Waffen mit der Stimme des Volks gekämpft. Doch heute erhebe das Volk vergebens seine Stimme. Die Macht liege in den Händen einer Handvoll von Leuten, die zwar laut sind, aber das Volk nicht verstehen. „Wir sind alle Teil dieser Hypokrisie. Leute, die korrupt sind, reden von der Ausrottung der Korruption, Männer, die Frauen diskriminieren, spielen sich als deren Befreier auf“. Dasselbe gelte für die parteiinterne Demokratie. „Kandidaten werden von oben aufgedrängt, während die Lokalsektionen nicht gehört werden“. Wen wundert es, wenn sich die Jugend entfremdet fühlt, wenn Frauenrechte verletzt werden, wenn die Armen keinen Einfluss über ihre eigene Existenz haben?
Menschen ohne Stimme eine Stimme geben
„Dies ist der Obama-Augenblick der Kongresspartei“ rief ein Minister nach der Rede begeistert aus. Wie dieser habe Rahul seine Partei in die Pflicht genommen. Viele Anwesende erinnerten sich an Rahuls Vater Rajiv Gandhi, der im Dezember 1984 seiner Partei in fast identischen Worten die Leviten gelesen hatte. Doch der Obama von 2004 war der klassische Aussenseiter gewesen, und Rajiv Gandhi war von seiner Mutter Indira gegen seinen Willen in die politische Laufbahn gezwungen worden. Rahul gab sich als Aussenseiter, ist aber in den acht Jahren Parteiarbeit ein Insider geworden und gehört zum engen Beraterkreis von Sonia Gandhi.
Die Schizophrenie seiner Stellung wurde auch bei seiner Antrittsrede offenkundig. Statt sich von den eben kritisierten ‚Machtcliquen‘ zu distanzieren, legte Rahul Gandhi ihnen am Schluss Girlanden um. Wie konnte er anders? Die drei Personen im Zentrum des Machtsystems der letzten vierzig Jahre sind seine engsten Familienangehörigen (Rahul ist unverheiratet). Als spürte er den Widerspruch, begann er sein Hohelied auf die eigene Familie mit einem Bekenntnis: „Meine Mutter kam gestern Abend in mein Zimmer“. Weinend habe sie ihm gestanden, was für ein Gift die Macht ist. „Sie hat erkannt, was die Macht bei den Menschen um sie herum bewirkt hat. Das einzige Gegengift ist, nicht an ihr zu hängen, und sie nur zu brauchen, um den Menschen ohne Stimme eine Stimme zu geben“. Ovationen brandeten auf, als Rahul geendet hatte, und auf dem Podium flossen Tränen.
Personen- und Ahnenkult des Nehru-Gandhi-Clans
Für einmal zügelten selbst die Medien ihren reflexhaften Zynismus gegenüber Politikern. Auch sie waren erstaunt und beeindruckt von der Offenheit, mit der Rahul die Perversion der Macht – auch der demokratischen – geisselte und das Demokratiedefizit seiner Partei beklagte. Gleichzeitig kamen sie nicht umhin, ihn der billigen Rhetorik zu bezichtigen: Hatten sich die Übel, die er offenlegte, nicht unter den Augen der mächtigsten Familie des Landes ausgebreitet? Sind sie nicht die direkte Folge der undemokratischen Strukturen, welche der Nehru-Gandhi-Clan mit seinem Personen- und Ahnenkult dem Land beschert hat? „Anyone hoping to transform the Congress Party“, so ein Kommentar im Internet-Journal ‚Firstpost‘, “must be able to break with its toxic tradition of authoritarianism and sycophancy”.
Rahul tat es nicht. Man musste nicht einmal den Saal verlassen, um zu sehen, wie Liebedienerei auch seine Kronprinzen-Kür begleitete. Der Anlass war ein ‚Brainstorming‘ der Partei, zu dem die Parteichefin Funktionäre, Parlamentarier und Minister eingeladen hatte. Aber die Organisatoren hatten einen grossen Teil der Einladungen Vertretern des ‚Jugend-Kongresses‘ und ihrer Studentenorganisation NSUI zugespielt. Dies entsprach dem durchaus legitimen Wunsch, die überalterte Parteiführung mit jungem Blut und frischen Ideen zu versorgen. Aber die jungen Heisssporne glichen eher einer Prätorianergarde, die ihren Anführer auf den Schild erhob.
Rahuls Schweigen
Man sieht es Rahul Gandhi an, dass er öffentliche Auftritte verabscheut, und dass er die Krone des Dynasten wie eine Dornenkrone trägt, genauso wie seine Mutter in der eigenen Machtfülle vielleicht wirklich einen Gifttrank sieht. Aber ebenso wenig wie seine Mutter liess er es geschehen, wenn Berater und Freunde in den letzten acht Jahren eifrig an seinem Status als Auserwähltem bastelten. Bei seiner Rede lächelte er sauersüss, wenn ihn ‚Hoch!‘-Rufe unterbrachen; aber er tat nichts, um die Claqueure zum Schweigen zu bringen. Genauso lässt Sonia keine Gelegenheit aus, die Opferrolle ihrer Familie herauszustreichen. Als seien der indische Staat und ihre Familie eine natürliche Einheit, lässt sie es geschehen, wenn Strassen, Flughäfen, Brücken und Armutsprogramme mit den Namen Nehrus, Indiras oder Rajivs verkoppelt werden.
Und wie steht es mit Rahuls Forderung, seine Partei müsse ‚Volkes Stimme‘ sein? Auch hier waren die Medienkommentare unerbittlich: In den acht Jahren als zweitmächtigster Politiker des Landes gab es zahlreiche Gelegenheiten für den jungen Mann, seine Stimme für das Volk zu erheben – die Kampagne gegen Korruption, Demonstrationen gegen galoppierende Inflation, Protestzüge von Landlosen, die Jugendbewegung. Doch Rahuls ‘default mode‘, so ‚Firstpost‘, „ist Schweigen“.
Selbst bei den Jugendprotesten gegen die Vergewaltigung der jungen Frau in Delhi liess er sich weder sehen noch hören. In Sprechchören riefen die Jungen in den Strassen der Hauptstadt: ‚Saare yuva yahaan hai/Rahul Gandhi kahaan hai?‘ – ‚Die ganze Jugend ist hier/Wo ist Rahul Gandhi?‘. Es lag Spott darin, aber es war auch ein echtes Bedürfnis herauszuhören, nach einem Gesicht und einer Stimme, die den Ruf der Jugend aufnehmen und weitergeben würde. Die Wahlen im nächsten Jahr werden zeigen, ob er ihn gehört hat.