St. Gallen verfügt über eines der schönsten Museen der Schweiz. Johann Christoph Kunkler (1813–1898), Schüler u. a. Friedrich von Gärtners in München, errichtete den feingliedrigen, fast zierlichen Neurenaissance-Bau im Jahr 1877. Die Räume sind von vollendeten Proportionen. Das Obergeschoss, in dem heute die Wechselausstellungen gezeigt werden, ist der seltene Fall eines Tageslicht-Museums: Die Mehrzahl der Räume empfängt Seitenlicht – gedämpftes von Norden, bei Sonnenschein strahlend helles von Süden her. Im zentralen grossen Saal gibt es Oberlicht. Der rund 150-jährige Bau, der in den 1980er Jahren zeitgemässen Präsentationsformen angepasst wurde, eignet sich ausgezeichnet für Gegenwartskunst – und ganz besonders für Künstler wie den 1959 geborenen Zürcher Adrian Schiess, der sich seit Jahren mit rarer Kompromisslosigkeit grundlegenden Fragen von Malerei jenseits alles Literarischen stellt.
„Flache Arbeiten“ und Raumkunst
Seit Jahren überzieht Schiess längsrechteckige Aluminiumverbundplatten mit meist monochrom aufgetragener Farbe. Er verzichtet dabei auf jede Spur von handwerklicher Bearbeitung der Platten. Mit ganz wenigen Ausnahmen glänzen die mit Industrielack versehenen Flächen und reflektieren das auf sie auftreffende Licht. In Schiess’ Arbeitsweise zeigen sich Beziehungen zu Minimal Art, zu monochromen Arbeiten zum Beispiel des Amerikaners John McCracken oder des Schweizers Olivier Mosset. Schiess lässt die weissen Wände frei und nutzt nur die Parkett-Böden. Die Platten liegen auf schmalen Holzlatten auf. Das lässt sie knapp über dem Boden schweben. Wohl nicht ohne Ironie sprach Schiess schon in den 1990er Jahren von „Flachen Arbeiten“: In dieser Art Malerei ist nichts vom Pathos der grossen Künstlergeste. Vielmehr demonstriert der Künstler einen radikalen Rückzug auf die Analyse dessen, was ihm Malerei bedeutet.
Wer nur einen flüchtigen Blick in die Ausstellung wirft, mag vielleicht Banales feststellen oder gar denken, im Werk von Adrian Schiess gebe es keine Entwicklung. Das wäre allerdings ein Fehlschluss: Erstens gibt es in der Bearbeitung der Platten stete Veränderungen, und zweitens geschieht Wesentliches in der Art und Weise, wie Schiess den Dialog mit der Architektur – hier eben mit den tagsüber lichtdurchfluteten Räumen Kunklers – sucht und wie er mit den differenzierten Farbklängen der Verbundplatten ins Raumgefüge eingreift. Die „Flachen Arbeiten“ werden so zur ausgreifenden Raumkunst.
Fremd- und Selbstwahrnehmung
Es liegt in der Natur des Tageslicht-Museums, dass diese Raumkunst in ständigem Fluss ist. Die Lichtsituation kann sich, je nach Wetter, je nach vorüberziehenden Wolken, von Minute zu Minute ändern. Die lackierten Platten reflektieren das Licht von aussen je nach Sonnenstand und Einfallswinkel anders. Einmal sind die Konturen dieser Reflexe scharf, dann wiederum sind sie, bei verändertem Licht im Raum, weich, oder sie verschwinden ganz. Die Lichtverhältnisse sind am Vormittag anders als am Abend. Und wird man im Januar nach St. Gallen zurückkehren, wird man in den Museumsräumen eine völlig andere Atmosphäre als heute vorfinden.
Adrian Schiess gibt den (ohne das Foyer mitzuzählen) sieben Räumen des Museums-Obergeschosses ein je anderes Gesicht. Die Unterschiede sind jedoch subtil; sie wahrzunehmen erfordert Sensibilität und Zeit. Manche Räume lassen sich, da die Platten bis an die Zugänge reichen, nicht betreten; die Besucher blicken in flachem Winkel auf eine Folge querliegender Platten in Blau- und Grüntönen im Nord-, in roten Tönen im Süd-Saal. Im zentralen Oberlichtsaal sind die Platten asymmetrisch ausgelegt. Hier spielt die Architektur insofern eine eigene Rolle, als sich die Spiegelung der Oberlicht-Sprossen wie eine zweite Ebene über die Farbplatten legt.
Im Durchschreiten der Räume eröffnen sich den Besuchern immer wieder neue Perspektiven und Durchblicke. All das zusammen macht die Museumsräume zu einem abwechslungsreichen und zugleich ruhigen Ort der Fremd- und Selbstwahrnehmung.
Aufbruch aus dem Chaos
Das Obergeschoss-Foyer hat im Gegensatz zu den erwähnten weissen Ausstellungsräumen die bunte und reiche Dekoration aus der Bauzeit behalten. Hier lässt Adrien Schiess eine ganz andere Atmosphäre entstehen. Da herrschen in den in Vitrinen ausgelegten, in heftigem Pinselduktus expressiv bemalten „Fetzen“ (entstanden in den 1990er Jahren) Unordnung und kreatives Chaos, in das der Künstler monochrome Balken-Skulpturen und auf Video abgespielte Farbverläufe einbaut.
Es ist das Umfeld, aus dem Schiess in jenes Neuland aufbrach, dem der Künstler erstmals 1990 im Aargauer Kunsthaus in Aarau eine Öffentlichkeit gab. Im gleichen Jahr fand Schiess mit seinen Arbeiten an der Biennale Venedig mit der Installation in der Kirche San Stae international Beachtung. 1992 folgten sein Auftritt an der documenta IX in Kassel sowie Ausstellungen in vielen prominenten Museen Europas und der USA.
Zusammenarbeit mit Architekten
Aus der St. Galler Präsentation der Malereien von Adrian Schiess lässt sich ablesen, dass ihn seine Art des Umgangs mit dem Raum prädestiniert zur Zusammenarbeit mit Architekten. So haben denn auch bedeutende Architekturbüros seine Mitarbeit gesucht – Herzog & de Meuron zum Beispiel für Bauten in Basel und in Laufen, Ruch & Partner für ein Wohnhaus im Engadin, Charles Keller und Marques-Architekten für die Weihnachtsbeleuchtung an der Zürcher Bahnhofstrasse und vor allem Gigon & Guyer für das Sportzentrum Davos, für zahlreiche Wohn- und Bürobauten in Zürich oder in den Niederlanden.
Zur Ausstellung erschien die Publikation „Adrian Schiess – Das Singende. Malerei 1980–2020. Gespräche mit Ulrich Loock“. Zusätzliche Texte stammen von Roland Wäspe, der die Ausstellung kuratiert hat, und von Roman Kurzmeyer. Der Band dokumentiert auch die Arbeiten von Adrian Schiess, die in Zusammenarbeit mit Architekten entstanden sind. Als Herausgeber zeichnen Ulrich Loock, Adrian Schiess und das Kunstmuseum St. Gallen. Die grossformatige Publikation umfasst 360 Seiten und kostet 75 Franken.
Kunstmuseum St. Gallen. Bis 7. Februar 2021
www.kunstmuseumsg.ch