Mit der Rache meldet sich ein Erbe aus frühester Menschheit. Politiker kaschieren es meist mit einem Repertoire an applausgewissen Floskeln. So sprach Präsident Obama davon, dass die Verantwortlichen des Verbrechens von Boston das «volle Gewicht der Gerechtigkeit zu spüren» bekämen. Das Problem ist nur, dass für nicht wenige Zeitgenossen dieses Gewicht der Gerechtigkeit zu wenig wiegt. Sie wollen es beschwert sehen mit dem Gewicht der Rache. Wurden die Angriffe im Irak oder in Afghanistan wirklich nur um der Gerechtigkeit willen geführt? Und welcher Gerechtigkeit?
Und ohnehin, Hand aufs Herz: Wer hat nicht klammheimliche Genugtuung verspürt bei der Erschiessung eines der Bombenbrüder von Boston; und wer vergösse Tränen, wenn mit dem Machetenmörder von London kurzer Prozess gemacht würde? Der fünfjährige Sohn des Amerikaners John Foreman wurde 1975 von einem kannibalischen Perversling umgebracht. Als man diesen 2011 wegen guter Führung vorzeitig entliess, tat der Vater öffentlich kund, den Mörder umzubringen.
Er fand grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Rufe nach «mehr Foremans» wurden laut. Strafe genügt nicht, es braucht Rache. Nach dem kürzlichen Mord an einer jungen Frau in Payerne las man in Kommentaren und Blogs immer wieder von der «Kuscheljustiz», die nicht in der Lage sei, die angemessen Straf- und Verwahrungsformen zu garantieren. Ist das nicht ein höchst gedeihliches Klima für Rachegedanken?
Gerechtigkeit als rationalisierte Rache?
Rache ist «leidenschaftliche und unedle Bewegtheit bei der Verfolgung eines Unrechts,» heisst es in Grimms Deutschem Wörterbuch. Sie liefert vorzugsweise den Kontrasthintergrund für den Zivilisierungsprozess vom rachsüchtigen Wilden zum aufgeklärten, Gerechtigkeit suchenden modernen Bürger. Gerechtigkeit ist die Rache des rationalen Menschen. So sah es bereits Platon im «Protagoras». Er traf eine Unterscheidung, die bis heute ihre Geltung bewahrt hat. Wer sich rächt, handle «vernunftslos wie ein Tier». «Wer aber mit Vernunft strafen will, tut dies nicht um des begangenen Unrechts willen (...), sondern des zukünftigen wegen, damit nicht ein andermal wieder (...) einer dasselbe Unrecht begehe.»
Eine Strafe ist also in dem Masse gerecht – «vernünftig» –, in dem sie präventiv und/oder erzieherisch wirkt. Aber genügt das? Schnallen wir Mörder wirklich nur auf den elektrischen Stuhl, um andere abzuschrecken? Oder um einer Katharsis willen? Kann die strikte Trennung von Rache und Gerechtigkeit aufrechterhalten werden? Der amerikanische Rechtswissenschafter Thane Rosenbaum – von dem gerade ein Buch zum Thema erschienen ist («Payback. The Case for Revenge») – verneint die Frage. Opfer würden «bloss vor einem kulturellen Tabu (kapitulieren), indem sie mit dem Racheverzicht das Protokoll einer höflichen Gesellschaft befolgen. Aber man täusche sich nicht: Sobald wir die viszerale Erfahrung des Opferseins machen, sind Rache und Gerechtigkeit ein und dasselbe.»
«Auge um Auge, Zahn um Zahn»
Wir alle kennen das Gefühl der Rache. Hirnforscher registrieren bei ihm Aktivitäten im neuronalen Belohnungssystem. Gerne erzählen Evolutionsbiologen ihre Geschichten über die Nachbarschaft von Frühmenschen, die durch implizite Racheandrohung eine Art Gleichgewicht des Schreckens errichteten. Die rechtliche Fassung des Vergeltungsgedankens lässt sich zurückverfolgen bis zur Lex talionis des dritten vorchristlichen Jahrtausends, bekannt als «Auge um Auge, Zahn um Zahn».
Dieses Gesetz steht im Geruch endlosen blutigen Rezyklierens von Vergeltung unter Clans und Gangs. Aber von seiner ursprünglichen Bedeutung her betrachtet hat es die entgegengesetzte Aufgabe. Wenn es zum Wesen der Rache gehört, über das Ziel hinauszuschiessen, dann verlangt die Formel Verhältnismässigkeit in der Schuldbegleichung. Verliert ein Mensch ein Auge durch die Tat eines anderen, dann soll der Täter auch mit einem Auge bezahlen – mit nicht mehr und nicht weniger.
«Abstrakte» Juristerei
Rache steckt implizit auch im Gerichtsurteil. Gerechtigkeit, schrieb der irisch-britische Philosoph Edmund Burke in einer Anklageschrift gegen die Ostindische Gesellschaft 1788, wachse aus «dem wilden, rohen Stamm der Rache»: «Die Frucht dieses Stammes ist reglementierte, nicht ausgelöschte Rache – Rache, die von der leidenden Partei übergeht zur mitleidenden Gemeinschaft der Menschen.»
Klarer kann man es nicht sagen. In der gerechten Strafe rächt sich nicht das Opfer, sondern die Gesellschaft am Täter. Das Urteil vereinigt in sich zwei Perspektiven: die persönliche des Opfers (Vergeltung) und die unpersönliche des Rechts (Strafe). Beide gehören untrennbar zusammen. Und beide lassen sich nicht aussöhnen.
Mitunter gewinnt man sogar den Eindruck, sie würden immer mehr auseinanderdriften; Gerechtigkeit entwickle sich zu einem formalen, abstrakten Geschäft, in dem die Juristen ihre Beurteilung einer Tat aus dem Gesetz deduzieren wie Mathematiker den Beweis eines Theorems aus bekannten Sätzen. Man lobt die stringente Argumentation eines Anwalts, die raffinierte Auslegung eines Gesetzesartikels, die brillante Verwendung eines Präzedens. Gewiss, damit demonstriert er seine Professionalität (und definiert sein Gehalt). Aber das ist lauter abstrakter juristischer Firlefanz in der Opferperspektive. Wenn Unrecht vom Opfer meist physisch erlitten wird, sollte es dann nicht auch «in den Eingeweiden» spüren, dass ihm Recht getan worden ist?
Geständnishandel
Ich möchte nicht behaupten, dass der modernen Jurisdiktion die «Eingeweide» fehlen und wir ihr bei Gelegenheit mit individuellen rächenden Kraftakten nachhelfen sollen. Aber gerade die vielgenannte «Kuscheljustiz» artikuliert ein Problem, das insgeheim mit der alten Lex talionis zu tun hat. Nicht selten sehen wir Übeltäter mit einer Strafe davonkommen, die unserer Ansicht nach nicht der Straftat entspricht – also nicht dem «Auge um Auge.» Das hinterlässt ein Gefühl hilfloser und sprachloser Wut. Liesse sich die Beliebtheit von TV-Serien wie «Revenge» oder von unzähligen Rächerfilmen vielleicht als Symptom dafür interpretieren, dass die Welt aus dem Gleichgewicht der Gerechtigkeit gekippt ist, und Menschen nun in fiktiven Handlungen den rächenden Ausgleich suchen?
Besonders die gängige Rechtspraxis des Geständnishandels nimmt Thane Rosenberg ins kritische Visier («Tausche Geständnis gegen milde Strafe»). Über 90 Prozent aller Fälle würden in den USA durch solche Urteilsabsprachen im Strafprozess gelöst. Dadurch aber zahle der verurteilte Täter nicht die gebührende Schuld an die Gesellschaft zurück. Schlimmer noch: Man betrüge das Opfer gerade um diesen heruntergehandelten Schuldbetrag. Das ist kein spezifisches Problem des amerikanischen Rechtssystems. Der deutsche Bundesrichter Thomas Fischer fand kürzlich starke Worte: «Die Geschichte der Absprache ist (...) eine Schande der Justiz. Sie ging, wie alle Bürokratien, den Weg des geringsten Widerstands. Die Absprache ‚handelt’ aus, was nicht ausgehandelt werden darf: Wahrheit, Schuld, Verantwortung.»
Die Opferperspektive
Auf dem Spiel steht eine fundamentale gegenseitige Verpflichtung. Der Bürger, der sich verpflichtet, keine Rache zu üben, übergibt dem Staat die Macht des Strafens. Umgekehrt hat dadurch der Staat die Pflicht, im Namen der Bürger – Burkes «mitleidender Gemeinschaft» – angemessen und rechtens zu strafen. So gesehen, ist der Geständnishandel ein gesellschaftlicher Vertragsbruch. Er unterhöhlt das Vertrauen in eine Jurisdiktion, die offensichtlich nicht oder ungenügend ihrer Pflicht nachkommt, stellvertretend für das Opfer Rache zu üben. Wundert es, wenn der Bürger «Kuscheljustiz» ruft oder gar zur Selbstjustiz schreitet?
Wahrscheinlich wird das Gesetz eine extreme Gewalttat nie gerecht ahnden können. Das impliziert nicht ein Racherecht. Aber wie neutral und rational – «ohne Ansehung der Person» – Justitia auch agiert, sie ist keine Strafmaschine. Sie errichtet nicht nur eine delikate Balance zwischen Gesetz und Rache. Faire Verfahren benötigen auch einen emotionalen Haushalt, zu dem das Gleichgewicht zwischen Täter- und Opferperspektive gehört. Auf diese Weise erhält das Opfer nicht zuletzt eine Würde zurück, die ihm die Straftat genommen hat.
Die Freiheit der Rache
Je mehr Strafe zum juristischen Kalkül verkommt, desto mehr verliert sie das Gewicht der moralischen Autorität und befeuert dadurch den Wunsch nach «Ersatz». Denn im Kern des Moralischen steckt die Rache. Gutes tun heisst nicht einfach, sein Morgengebet aufsagen oder alten Damen über die Strasse helfen. Gutes tun braucht die Option, auch Böses zu tun. Das drückt die alte Idee der Theodizee aus: Die Welt braucht Böses, denn bestünde sie aus lauter Gutem, wäre dieses nicht mehr erkennbar.
Ebenso gewinnt Gerechtigkeit ihre wirksame Bedeutung, wenn man in sich selber die permanente Option der Rache zulässt. Zum Glück verzichten wir meistens auf sie. Zum Glück gibt es (immer noch) ein Rechtssystem, das mir diesen Verzicht leicht macht. Aber er setzt die Freiheit voraus: Ich könnte die dünne Linie zur Vergeltung überschreiten... Wie nieder und unedel der Instinkt auch sein mag, das Universum des Rechts ruht auf dem Fundament dieser Freiheit.