Natürlich sind die beiden Whistleblower-Fälle Snowden und Magnitski nicht deckungsgleich, aber es gibt Parallelen und Berührungspunkte. Sie fordern zu Vergleichen heraus, die in ihrer politischen Wahrnehmung für die USA und Präsident Obama wenig schmeichelhaft ausfallen könnten – auch wenn im Fall Snowden der Ausgang ja noch nicht abzusehen ist.
Wie weit hat Snowden Geheimnisse verraten?
Der bisherige Verlauf der Snowden-Saga ist bekannt. Der 30-jährige US-Bürger hatte vor einigen Wochen sein Wissen als IT-Spezialist über die weltweiten systematischen Sammelpraktiken von Internet-Daten durch den Geheimdienst NSA via die britische Zeitung „Guardian“ publiziert und ist dann verdeckt von Hongkong nach Moskau weitergereist, wo er jetzt um Asyl gebeten hat. Auf die zunächst offenbar vorgesehene Weiterreise nach einem südamerikanischen Asylland hat er verzichtet, weil er mit einigem Grund befürchtet, dass er auf dem Flug dorthin vom mächtigen Arm Amerikas gefasst werden könnte.
Dass Snowden mit seinen Enthüllungen, die er mit moralischen und menschenrechtlichen Motiven begründet, amerikanisches Recht gebrochen hat, wird allgemein als unbestritten dargestellt und der junge Whistleblower scheint dies auch selbst so zu verstehen. Doch juristisch ist das bisher keineswegs hieb und stichfest geklärt. Schon die Tatsache, dass vieles über die Datensammel-Praktiken des NSA für jene, die sich dafür interessierten, in der Öffentlichkeit bereits in breiter Fülle publiziert war, scheint geeignet, Snowdens Geheimnisverrat zu relativieren (siehe das 2008 erschienene Buch des US-Journalisten James Bamford: The Shadow Factory. The Ultra-Secret NSA from 9/11 to the Eavesdropping on America).
Magnitskis Enthüllungen
Snowden müsste also, wenn er je in die USA zurückkehrte und alles mit rechten Dingen zuginge, dort vor ein ordentliches Gericht gestellt werden und dieses hätte dann über seine eventuelle Schuld und ein eventuelles Strafmass zu entscheiden. Aber besteht Gewähr, dass in diesem Fall die amerikanische Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz tatsächlich funktionieren würde? Hätte Snowden eine Chance, als Whistleblower von einem amerikanischen Gericht unter Umständen auch freigesprochen zu werden? Immerhin hatte Obama zu Beginn dieser Affäre erklärt, es sei gut, dass über das Ausmass der staatlichen Datensammel-Schleppnetze nun eine öffentliche Debatte geführt werde. Doch ob bei einem Verfahren gegen Snowden solche Aspekte gebührend berücksichtigt würden, darüber bestehen heute Zweifel. Obama hätte zumindest die Möglichkeit, sie zu entschärfen.
Im Fall Magnitski, der dieser Tage von einem Moskauer Gericht posthum wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden ist, gibt es gibt keine vernünftigen Zweifel an der willkürlichen Manipulation der russischen Justiz. Der damals 37-jährige Sergei Magnitski ist 2009 unter völlig dubiosen Umständen in einem Moskauer Gefängnis gestorben. Er war als Anwalt eines in London domizilierten Hedgefonds tätig, dessen Leiter, der Amerikaner William Browder, hatte zuvor in Russland in grossem Umfange Geschäfte gemacht, war dann aber beim Kreml in Ungnade gefallen und konnte seit 2005 nicht mehr ins Land einreisen. Magnitski hatte im Zusammenhang mit diesen Vorgängen und der mit kriminellen Methoden betriebenen Enteignung von Firmen, die zuvor von Browder kontrolliert worden waren, eine gigantische Finanzverschwörung aufgedeckt, bei der russische Steuerbeamte im Verein mit Hintermännern sich illegal 230 Millionen Dollar zugeschanzt hatten.
Die Dokumentation des Europarats
Nachdem Magnitski eine entsprechende Klage eingereicht hatte, wurde er wegen eines angeblichen Steuerdelikts selber verhaftet. Er starb sieben Tage vor Ablauf der maximal möglichen einjährigen Untersuchungshaft, weil man dem an der Bauchspeicheldrüse erkrankten Anwalt eine adäquate medizinische Behandlung verweigert hatte. Der dem damaligen Präsidenten Medwedew unterstehende Menschenrechtsrat stellte nach eigenen Untersuchungen fest, dass Magnitski im Gefängnis geschlagen wurde, und bei seinem Tod mit Handschellen an sein Zellenbett gefesselt war.
Alle an dem Fall Magnitsky beteiligten Beamten sind in Russland freigesprochen oder gar nie angeklagt worden. Wer Genaueres über diesen krassen Fall von staatlich organisiertem Justizmissbrauch und Korruptionsverschleierung erfahren will, sollte den über 40seitigen Bericht lesen, den Nationalrat Andreas Gross Mitte Juni als Rapporteur dem Strassburger Europarat vorgelegt hat und der voraussichtlich im September im Ratsplenum behandelt wird: http://www.assembly.coe.int/Communication/ajdoc24_2013.pdf
An Putins Gängelband
Vollends zur Justizfarce geworden ist der Fall Magnitski durch den jüngsten Entscheid eines Moskauer Gerichts, bei dem der tote russische Anwalt und sein früherer Auftraggeber Browder in absentia wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Dass solche Urteile mit politischem Hintergrund letzten Endes durch Präsident Putin persönlich beeinflusst werden, daran zweifelt kaum ein halbwegs kritischer Beobachter. Die Justizverfahren gegen den ehemals reichsten Oligarchen Chodorkowski, den populären Oppositionsführer Nawalny, die seit Jahren verschleppte Aufklärung über die Hintermänner bei der Ermordung der Kremlkritikerin Anna Politkowskaja oder die drakonischen Urteile gegen die feministische Pop-Gruppe Pussy Riot belegen überdeutlich, dass Putin keine Skrupel kennt, die Justiz für seine Zwecke zu manipulieren, wenn es darum geht, unbequeme Geister zum Schweigen zu bringen – oder für deren Sympathisanten oder möglichen Nachahmer abschreckende Exempel zu statuieren.
Im Fall Magnitzky geht es für Putin und sein Herrschaftssystem nicht zuletzt um aussenpolitische Dimensionen. Magnitzkis Auftraggeber Browder hatte nach dem skandalösen Tod seines Moskauer Anwalts durch rühriges Lobbying in Washington erreicht, dass der US-Kongress gegen 60 russische Beamte, denen Verantwortung für die Affäre und ihre finanziellen Hintergründe zugeschrieben wird, ein Einreiseverbot erlassen hat. Ausserdem wurden sämtliche Vermögenswerte in den USA der von dieser Massnahme Betroffenen gesperrt. Putin wiederum erliess als Retourkutsche über das von ihm kontrollierte Parlament ein Gesetz, das die Adoption von russischen Waisenkindern durch amerikanische Staatsbürger verbietet.
Rechtssicherheit für US-Whistleblower?
Was also sind nach dem heutigen Stand die Parallelen und was sind die Unterschiede in den beiden Whistleblower-Fällen Snowden und Magnitski? In beiden Fällen hat der betroffene Staat und dessen Justiz mit allen möglichen Mitteln versucht, den Whistleblower unter seine Kontrolle zu bringen. Snowden ist es gelungen, sich dem amerikanischen Zugriff zu entziehen. Magnitski, der höchst wahrscheinlich ein riesiges Korruptionsverbrechen enthüllt hatte, wanderte ins Gefängnis und ist dort unter absolut verdächtigen Umständen gestorben.
Dieser Umstand und die groteske posthume Verurteilung eines Toten – man fühlt sich lebhaft an ähnlich bizarre Geschehnisse in Gogols Roman „Die toten Seelen“ erinnert, einem Klassiker der russischen Literatur – bestätigten die These, dass es in Putins Reich keine unabhängige Justiz und deshalb keine Rechtssicherheit gibt, wenn Interessen der herrschenden Machtvertikale tangiert werden.
Wie aber steht es mit der amerikanischen Rechtssicherheit im Fall Snowden und andern US-Whistleblowern? Im Fall des amerikanischen Soldaten Bradley Manning, der angeklagt ist, als IT-Spezialist im Irak riesige Datenmengen über die Armee an die Piratenplattform Wikileaks transferiert zu haben, ist der Prozess vor einem amerikanischen Militärgericht in Maryland noch im Gange. Snowden hat sich der amerikanischen Justiz entzogen und deshalb ist ungewiss, ob es je zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren gegen ihn kommen wird.
Guantánamo und die Glaubwürdigkeit
Man kann mit guten Gründen die Ansicht vertreten, dass die Rechtsstaatlichkeit in den USA erheblich zuverlässiger aufgehoben ist als im heutigen Russland. Jedenfalls hat selbst einer der schärfsten und bekanntesten Kritiker staatlicher Machtanmassungen in Amerika, Noam Chomsky, unlängst in einem Interview klipp und klar festgehalten, sein Land sei eine Demokratie. Deshalb wies er die Gleichsetzung von staatlichen Datenschnüffeleien im demokratischen Amerika und im diktatorisch regierten China entschieden zurück (Die Zeit, 20. 6.2013). Gestützt auf den in den USA breit verwurzelten Prinzip der checks and balances kann somit argumentiert werden, dass Snowden und Manning grundsätzlich ungleich bessere Chancen haben, als Whistleblower in den USA ein faires, rechtstaatliches Verfahren zu bekommen, als es im Fall des Whistleblowers Magnitski von der russischen Justiz demonstriert worden ist.
Doch über jeden Zweifel garantiert ist die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundregeln auch in Amerika durchaus nicht. Das belegt allein schon das unwürdige Fortbestehen des Isolationslagers von Guantánomo, wo 12 Jahre nach 9/11 noch immer um die 150 ausländische Häftlinge eingekerkert bleiben, mehrere Dutzend unter ihnen ohne jedes Justizverfahren, andere sind zwar freigesprochen, werden aber trotzdem nicht entlassen. Eine grössere Anzahl dieser Häftlinge wird wegen Hungerstreiks inzwischen zwangsernährt. Präsident Obama hat zwar vor seiner ersten Wahl versprochen, dieses Lager, das laut verschiedenen Gerichtsurteilen rechtsstaatlichen Prinzipien widerspricht, aufzuheben. Es trifft zu, dass im Kongress gegen dieses Vorhaben hartnäckig Hindernisse aufbaut werden, doch Obamas politischer Kampfeswillen gegen diese Hindernisse ist keineswegs überzeugend.
Obamas Demokratie-Einsatz
Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn sich auch im Fall Snowden nicht nur bei jenen Schwarz-Weiss-Kritikern, die Amerika für das Reich des Bösen schlechthin halten, Zweifel regen, dass der Whistleblower Snowden in den USA mit einem fairen, rechtsstaatlich korrekten Verfahren rechnen könnte. Präsident Obama hätte die Möglichkeit, solche Zweifel wenn nicht auszuräumen, so doch zu besänftigen, indem er mit aller Klarheit auch die vertretbaren Aspekte von Snowdens und Mannings Whistleblower-Tätigkeit hinweisen würde.
Denn ein Rechtsstaat, in dem die Bürger nicht wissen dürfen, wie weit und unter welchen Konditionen der Staat die Daten seiner Subjekte sammeln und verwerten darf, ist kein völlig überzeugender Rechtsstaat. Putin mag sich um solche Feinheiten und um staatspolitische Debatten über den möglichen demokratischen Glaubwürdigkeitsgewinn von unbequemen Whistleblowern foutieren. Doch für Obama darf das kein Vorbild sein.