Vor hundert Jahren entzündete sich in Russland die sogenannte Februar-Revolution. Sie wurde im Oktober des gleichen Jahres durch einen Putsch der von Lenin geführten Bolschewiki überrollt und dann in die Sowjetdiktatur verwandelt. Das Gedenken an diese ebenso dramatischen wie blutigen Vorgänge konfrontiert das Putin-Regime, das gern und mit Pomp einen Identitätskult um grosse Figuren und Ereignisse der russischen Geschichte betreibt, mit allerhand Widersprüchen.
Ljudmila Ulitzkaja, die bekannteste russische Schriftstellerin der Gegenwart und dezidierte Putin-Kritikerin, sagte dieser Tage an einer Diskussion im Zürcher Literaturhaus zu diesem Thema, die Regierung habe noch kein erkennbares Konzept, wie sie das Revolutionsjubiläum auf angemessene Weise feiern wolle.
Die Widersprüche beginnen schon mit der Figur Lenins, der im April 1917 im „plombierten“ Zug von Zürich nach St. Petersburg reiste, dort im zweiten Anlauf sich und seine Bolschewiken an die Macht putschte und dann jahrzehntelang als heiligste Ikone der Sowjetmacht beweihräuchert wurde. Kann etwas vom alten Glanz dieser Lenin-Verehrung und ihrer Traditionslinie auch auf Putin abfärben? Immerhin präsentiert sich der tief von der Sowjetmentalität imprägnierte Kremlchef regelmässig auf der Tribüne des Mausoleums auf dem Roten Platz, in dem der einstige „Führer des Weltproletariats“ immer noch als einbalsamierter Leichnam vor sich hindämmert.
Wie aber passen die Anleihen an den Lenin-Kult zusammen mit der Glorifizierung der Zarenzeit, die vom Putin-Regime und seinen Propagandisten noch weit aufwendiger betrieben wird? Nicht ganz einfach auf die Reihe zu bringen – aber kaum unlösbar. Mit der gleichzeitigen Idealisierung aller Zaren und einem seit langem laufenden Verklärungsprozess um Stalin hat man in Russland allerhand Erfahrung im Umgang mit solchen Widersprüchen.
Der grosse gemeinsame Nenner heisst: Glorienschein für alle, die im Guten wie im Schlechten in die russische Geschichte eingegangen sind: Von Iwan dem Schrecklichen über Peter den Grossen, Katharina die Grosse, Suworow, Alexander I., Tolstoi, Tschechow, Rasputin, den letzten Zaren Nikolaus II., Lenin, Stalin, Solschenizyn, Breschnew, Putin. Ausgeschlossen von dieser heterogenen Heldenreihe ist vorläufig nur der Perestroika-Erfinder und Sowjetunion-Bestatter Gorbatschow.
Sämtliche historischen Widersprüche sind damit allerdings noch nicht übertüncht. Wie inzwischen bekannt geworden ist, hat sich auch Präsident Trumps mephistophelischer Chefberater Steve Bannon als „Leninist“ geoutet. Allen Ernstes soll er 2013 erklärt haben: „Lenin wanted to destroy the state, and that’s my goal too.“ Wie diese bizarre Ungereimtheit aufzulösen wäre, wird man vielleicht nach der ersten Begegnung zwischen Trump und Putin erfahren.