In seinem Bestreben zur Errichtung eines grossrussischen Reichs nimmt der Kremlherrscher auch die zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken ins Visier. Doch seinen Avancen begegnet man dort ausgesprochen störrisch.
Knapp 120 Tage nach dem Beginn seiner «militärischen Spezialoperation», seinem Willkürkrieg gegen die Ukraine, wagte Wladimir Putin sich ein erstes Mal, aber nur ganz kurz, auf eine Auslandreise. Logistisch stellte sie den Planern des Präsidenten wohl keine Probleme. Da musste kein Land überflogen werden, das irgendeinen russischen Politiker mit Sanktionen bedacht hätte, da ging es in der Luftlinie nur über Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, allenfalls noch über einen Zipfel von Kirgistan nach Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans.
Würde man den offiziellen Verlautbarungen aus Moskau trauen (was wohl, zumindest im Westen, seit dem 24. Februar kein vernunftbegabter Mensch mehr tut), wäre das eine reine Harmoniereise mit zwei Landungen gewesen, eine in Duschanbe, die andere in Aschgabad, also in Turkmenistan, wo ein Gipfeltreffen der Anrainerstaaten des Kaspischen Meers organisiert wurde. «Verstärkung der Zusammenarbeit» lautete der Oberton der dürren Verlautbarungen nach der Rückkehr Putins. Und alles sei harmonisch verlaufen, hätten Gutgläubige den veröffentlichten Texten im alten Sowjetstil entnehmen können. Bösgläubige konnten allerdings auch Dissonanzen erkennen.
Russische Ambitionen
Die Dissonanzen sind international wichtig, weil Putins Machtapparat Interesse erkennen lässt, den ganzen zentralasiatischen Raum als eigenen Hinterhof zu beanspruchen. Die erwähnten fünf Länder haben zusammen eine Fläche von etwa 5,6 Millionen Quadratkilometern und immerhin 76 Millionen Einwohner. Aus der Perspektive des Pseudohistorikers Putin ist alles klar. Er beruft sich jetzt ja auf Peter den Grossen, und somit möchte er wohl auch ein paar Millionen Quadratkilometer ausserhalb des historischen Russlands wenigstens theoretisch sein Eigen nennen.
Mit Jahreszahlen nimmt er es bei seinen Visionen auch nicht so genau. Peter der Grosse herrschte Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Turkmenistan, ähnlich wie andere zentralasiatische Regionen, aber kam erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter russische Kontrolle. Ein oder zwei Jahrhunderte Differenz zählen offenkundig für das heutige Russland nicht. Aus der Sicht des Kremls wäre es offenkundig schön, wenn alle «Stans» (Kasachstan, Usbekistan etc. – sprachlich alles übrigens auf dem Farsi, dem Persischen, beruhend; da bedeutet «ostan» Region) sich wieder eng an Moskau anschliessen würden.
Nur: Die jetzt in den «Stans» Herrschenden haben mehr oder weniger stark ausgeprägte eigene Visionen und eigene, bisweilen auch eigenartige Herrschaftsstile. Am ausgeprägtesten Turkmenistan, dessen Präsident, Serdar Berdimuhamedow, bei Putins Besuch auf eine originelle Idee von Distanznahme verfiel: Er «vergass» es offenbar, den Diktator aus Moskau nach der Landung in Aschgabad mit dem Minimum an traditioneller Höflichkeit empfangen zu lassen, nämlich mit etwas Salz und Brot. Bei der Konferenz der Anrainerstaaten des Kaspischen Meers, dem Amlass für Putins Reise nach Turkmenistan, blieb es bei Leerformeln. Noch am erfolgversprechendsten erscheint rückblickend das Treffen Putins mit dem iranischen Präsidenten Raisi, der angesichts der Stagnation der Gespräche mit westlichen Mächten dringend auf die Intensivierung der Beziehungen mit Regierungen in der eigenen Hemisphäre angewiesen ist.
Zentralasiatisches Kuriosum
Turkmenistan ist auch im zentralasiatischen Kontext ein Kuriosum – ein tragisches für die etwa sechs Millionen direkt Betroffenen im Lande, ein nicht ganz ernstgenommenes für die Aussenwelt. Es ist klar eine Diktatur, und zwar eine, die sich in ihrer Rigorosität nur wenig von Nordkorea unterscheidet. Der jetzige Präsident ist der Sohn des letzten – und der war Leibarzt oder Leib-Zahnarzt des vorletzten, also von Saparmyrat Niyazow, genannt Türkmenbashi, Vater der Turkmenen.
Wer nach Turkmenistan reist, kann die Spuren Türkmenbashis auf Anhieb an der Architektur der Hauptstadt erkennen: alle neuen Häuser in fast weissem Stein, alle Autos ebenfalls weiss. Das Zentrum der Stadt ist bereichert durch Monumente, deren bestes bis vor wenigen Jahren noch eine rund dreissig Meter hohe Säule mit der vergoldeten Figur des Präsidenten an der Spitze war, die sich jeweils in 24 Stunden einmal um sich selbst drehte, um immer das ganze Land zu «segnen». Nachfolger Berdimuhamedow der Erste liess die Säule und die oben thronende Figur irgendwo konservieren; niemand weiss, wo genau. Türkmenbashi verfasste sechs ziemlich dicke Bücher unter dem Titel «Ruhname» (Ruh kommt aus dem Persischen, heisst Geist oder Seele, Name bedeutet Buch oder auch Brief), in denen er klarmachte, dass die ganze Menschheit ziemlich unwissend geblieben wäre, hätten die Turkmenen nicht schon in der Urzeit das Wesentlichste für alle erfunden. In der Disziplin Ruhname kann man in Turkmenistan hohe akademische Grade erwerben.
Von den exzentrischsten Kennzeichen eines Personenkults distanzierten sich zwar die Nachfolger Türkmenbashis ein wenig, aber das System änderte sich nur marginal. Zensur, Parteienverbot, Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger, das alles blieb ziemlich unverändert. Und wenig Veränderung ist, für aussenstehende Beobachter, auch in Sachen wirtschaftlicher Entwicklung zu erkennen. Das Regime weist gerne auf die tatsächlich immensen Ressourcen an Erdöl und Erdgas hin, aber dieser Reichtum konnte bisher nur in geringem Ausmass in klingende Münze umgesetzt werden. Vielleicht auch, weil die Regierung Turkmenistans sich fürchtet, vom Fast-Nachbar China vereinnahmt zu werden. Und anderseits, weil Turkmenistan mit anderen Sorgen belastet ist: Afghanistan ist ein Problem-Nachbar, und ein Überschwappen der Taliban-Ideologie ins eigene Staatsgebiet ist zumindest vorstellbar.
Erinnerungen an die Sowjetherrschaft
Doch was ist mit Russland, mit Moskau? Turkmenistan versteht sich als neutral, und das kommt auch im Verhältnis zu Moskau zum Ausdruck. Würden die Turkmeninnen und Turkmenen sich frei äussern können, würden sie wohl darauf hinweisen, wie dominant die Sowjetherrschaft jahrzehntelang war, und zwar so sehr, dass der Alltag noch heute davon geprägt ist. Stalin verordnete den Zentralasiaten die Baumwoll-Monokultur, und die hatte den Bau gewaltiger Wasserkanäle zur Folge. Die wiederum trugen dazu bei, dass unvorstellbar grosse Regionen in ganz Zentralasien austrockneten. Der Aral-See ist das krasseste Beispiel. Als die Zentralasiaten ab 1991 unabhängig wurden, reduzierten sie stufenweise ihre Abhängigkeit von der Monokultur, aber die Folgen davon sind bis heute nicht verwunden. Der Übergang in die wirtschaftliche Eigenständigkeit erwies sich überall als schwierig.
Angesichts des Charakters des Regimes, in dem Diskretion nach aussen oberstes Gebot ist, war die Brüskierung des russischen Präsidenten Putin beim Besuch in Aschgabad fast schon eine Sensation.
Undank der Usbeken
Andere Regierungen der Region, ähnlich auf den Herrschaftserhalt bedacht wie Turkmenistan, verhalten sich, was Russland betrifft, vergleichbar. Usbekistans autoritärer Regierung gelang es bisher, abgesehen von den sozialen Medien, alles so unter Kontrolle zu halten, dass Kreml-kritische Stimmen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg nicht zum Ausdruck kamen. In Kirgistan versuchte die Führung eine Debatte über das von Pro-Russen favorisierte Z-Zeichen, das Unterstützung des Kriegs gegen die Ukraine ausdrückt, zu unterbinden. Ganz gelang es ihr nicht; in den sozialen Medien tauchten unterschiedliche Meinungen dazu auf. Aber im Grossen und Ganzen blieb es still. Etwas anders dagegen, und das erstaunt, verhält es sich in Kasachstan.
Als Putin am 24. Februar seine Truppen zur Attacke auf die Ukraine losschickte, waren erst wenige Wochen vergangen, seit der kasachische Präsident Tokajew dem Kreml-Herrscher seinen Dank für die Hilfe bei der blutigen Unterdrückung einer internen Protestwelle zum Ausdruck hatte bringen müssen. Moskau hatte zu diesem Zweck mehrere hundert Soldaten nach Kasachstan entsandt, zog sie aber danach wieder zurück. Kassym-Shomart Tokajew galt damals als schwach, und das nicht ohne Grund: Er profilierte sich in den drei seiner bisherigen Herrschaftsjahre als superdiskreter Diplomat, als fast schon serviler Nachfolger des Vorgängerpräsidenten Nursultan Nasarbajew. Umso erstaunlicher, wie er sich bei dem von der russischen Führung organisierten Wirtschaftsforum in St. Petersburg am 17. Juni von der Politik Putins und dem Ukrainekrieg distanzierte. Erst sagte er klar und deutlich, dass Kasachstan nicht daran denke, die pro-russischen Separatistenregionen im ukrainischen Donbass als unabhängig anzuerkennen, dann distanzierte er sich auch noch von Putins Strategie gegen die Ukraine und schliesslich lehnte er, im Rahmen von noch knapp respektierter Höflichkeit, auch noch die Annahme eines Ordens ab.
Wladimir Putin muss sich wohl damit abfinden, dass er seine Träume hinsichtlich der Konsolidierung seines Hinterhofs in Zentralasien begraben muss.