Die Wochenzeitung «Die Zeit» veröffentlicht in ihrer jüngsten Ausgabe einen Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Anlass dazu war der 80. Jahrestag des nazideutschen Überfalls vom 21. Juni 1941 auf die damalige Sowjetunion. Den Artikel hatte die russische Botschaft der Zeitung angeboten. In einigen Medien ist die Veröffentlichung kritisiert worden, weil Putin damit eine prominente Plattform für einseitige Propaganda geboten worden sei.
Osteuropas Befreiung – eine «Halbwahrheit»
Dieser Vorwurf vermag nicht zu überzeugen. Erstens ist der Einmarsch der Hitler-Armeen in die Sowjetunion vom 21. Juni 1941 ein historisch höchst gewichtiges Datum. Es markiert den Beginn der blutigsten Phase im Zweiten Weltkrieg mit mehreren Millionen Toten – weitaus am meisten auf Seiten des sowjetischen Vielvölkerstaates. Zweitens ist nicht einzusehen, weshalb man im wiedervereinigten Deutschland 80 Jahre nach jenem verbrecherischen Angriff dem russischen Präsidenten und Vertreter des grössten sowjetischen Nachfolgestaates nicht die Möglichkeit geben sollte, aus Anlass dieses Datums seine Sicht der Dinge darzulegen – auch wenn man zum Vornherein weiss, dass das offizielle Russland die Nachkriegsgeschichte durch eine ausgeprägt nationalistisch gefärbte Brille zu erzählen pflegt.
Und drittens hat «Die Zeit» unmittelbar nach der Publikation von Putins Artikel in ihrer Online-Ausgabe dem früheren polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorski Gelegenheit gegeben, Putins Artikel kritisch zu durchleuchten und in wesentlichen Punkten eine Gegenposition zu vertreten. Der aufmerksame Leser hat also durchaus die Möglichkeit, zwischen sehr unterschiedlichen Standpunkten seine eigene Meinung abzuwägen – ganz abgesehen davon, dass zu beiden Artikeln auf Zeit-Online Hunderte von Kommentaren nachzulesen sind.
Hier soll nur auf die umstrittensten Punkte der Putin-Sakorski-Kontroverse eingegangen werden. Putin schreibt, die Rote Armee habe durch ihren heldenhaften Sieg über Hitler-Armeen nicht nur die Würde und Unabhängigkeit des Vaterlandes, «sondern auch Europa und die ganze Welt von der Versklavung gerettet». Der frühere polnische Aussenminister entgegnet in seiner Replik, das sei nur eine «Halbwahrheit». Stalins Rote Armee habe zwar die Wehrmacht bekämpft, aber «zugleich dem halben Kontinent den (sowjetischen) Totalitarismus aufgezwungen». Man könne das zwar als eine «Verbesserung» bezeichnen, aber «auf keinen Fall als eine Befreiung».
Umstrittene Nato-Ausdehnug
Putin argumentiert an anderer Stelle seines Artikels, die «Grundursache» des zunehmenden Misstrauens zwischen Russland und dem Westen nach dem Ende des Kalten Krieges liege in der Ausdehnung des westlichen Militärbündnisses gegen Osten. Eingeleitet worden sei diese Expansion damit, dass die damalige sowjetische Führung «de facto überredet wurde, dem Nato-Beitritt des geteilten Deutschlands zuzustimmen». Insgesamt seien schrittweise 14 Staaten diesem Bündnis beigetreten, unter ihnen auch ehemalige Sowjetrepubliken (wie die unabhängig gewordenen drei baltischen Länder).
Sikorski hält dieser Version folgende Antwort entgegen: Zunächst stellt er fest, dass der Sowjetführung keine schriftlichen Zusagen zur Nichtausdehnung der Nato gemacht wurden, wie das manche «Revisionisten» immer wieder hartnäckig suggerieren. Dann betont er, dass Polen und andere ehemalige Ostblockländer «aufgrund unserer Geschichte mit Russland in die Nato als Allianz freier Demokratien» strebten. Die Nato habe sich nicht «ausgedehnt», sondern «hat uns widerwillig aufgenommen, weil wir unbedingt beitreten wollten». Er persönlich, fügt Sikorski hinzu, sei der Meinung gewesen, es wäre gut, wenn auch Russland diesem Bündnis beitreten würde. Dafür aber hätte Moskau demokratische Kriterien erfüllen und territoriale Konflikte mit den Nachbarn lösen müssen, was nicht geschehen sei.
Umsturz in der Ukraine – von den USA organisiert?
Schliessich setzt sich Sikorski energisch mit den von Putin besonders einseitig formulierten Behauptungen zur «ukrainischen Tragödie von 2014» auseinander. Der Kremlchef stellt die komplexen inneren Auseinandersetzungen in dieser ehemaligen Sowjetrepublik kurzerhand als einen «bewaffneten, verfassungswidrigen Staatsstreich» gegen den damals amtierenden Präsidenten Janukowitsch dar, der dann Hals über Kopf nach Russland flüchtete. Diesen «Staatsstreich» haben nach Putins Version die USA organisiert, «willenlos unterstützt von den EU-Staaten». Irgendeinen Beweis für seine steile These liefert er nicht.
Sikorski widerspricht: Er sei damals beim Maidan-Aufruhr zusammen mit dem damaligen deutschen Aussenminister Steinmeier und dem französischen Kollegen Fabius als Teil einer Troika nach Kiew gereist, um eine Vermittlung zwischen den ukrainischen Demonstranten und Präsident Janukowitsch zu erreichen, der das vorbereitete Assoziationsabkommen mit der EU plötzlich zurückgewiesen hatte. Es seien die Sicherheitskräfte Janukowitschs gewesen, die zuerst auf die Demonstranten feuerten und nicht umgekehrt, wie die Moskauer Propaganda behaupte, betont der polnische Ex-Aussenminister. Die dadurch entstandene Gewalteskalation und die Absetzbewegung seiner eigenen Leute hatte dann den ukrainischen Präsidenten zur Flucht Richtung Osten und nach Russland veranlasst.
Putin behauptet in seinem «Zeit»-Artikel kühl, es sei die von den USA organisierte damalige Spaltung innerhalb der Ukraine gewesen, die «den Austritt der Krim aus dem ukrainischen Staat» provoziert habe. Dass bei diesem Machtwechsel die von Moskau nach der Halbinsel entsandten «grünen Männer» eine entscheidende Rolle spielten, erwähnt der Kremlchef mit keinem Wort. Es versteht sich, dass Sikorski auch diese Version nicht gelten lässt. Es seien schliesslich die russischen Streitkräfte gewesen, die 2014 zuerst in der Krim und dann im Donbass einmarschierten – und nicht irgendwelche US-Agenten.
Russlands wunder Punkt
Nicht alles, was Putin über die europäische Nachkriegsgeschichte und ihre Konflikte schreibt, ist derart einäugig formuliert, wie die von Sikorski kritisierten Punkte. Russland, versichert er, hoffe immer noch auf die Schaffung eines fairen «Kooperations- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik». Dieser könne verschiedene Integrationsformate einschliessen wie etwa die EU und die von Moskau angeführte Eurasische Wirtschaftsunion. Was bei dieser Vision von einem «Kontinent ohne Trennlinien» mit der Nato geschehen soll, erwähnt der Kremlchef allerdings nicht. Er sagt auch nichts zur einst diskutierten Möglichkeit einer russischen Beteiligung an diesem Verteidigungsbündnis.
Der frühere polnische Aussenminister Sikorski verweist in seiner Replik indessen auf einen besonders wunden Punkt in der vom Kremlchef skizzierten russischen Interessenlage: Russlands mangelnde Attraktivität und Anziehungskraft auf andere Länder. «Wer eine Allianz mit Russland eingeht, bekommt eine Diktatur wie in Kasachstan und Repression wie in Belarus.» Aber auch Russland habe eine Wahl, und er hoffe sehr, dass dieses Land seine Wahl eines Tages korrigiere, schreibt Sirkowski zum Schluss.