Ist die militärische Rebellion seines St. Petersburger Protégés Prigoschin für Putin glimpflich ausgegangen? Auf den ersten Blick mag es so scheinen. Aber das vorläufige Ende der spektakulären Episode vom Wochenende kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der angeblich so souverän waltende Kreml-Diktator sich im Zusammenhang mit dem von ihm vom Zaun gerissenen Ukraine-Krieg einmal mehr schwer verkalkuliert hat.
Die offene Meuterei Priogoschins und seiner Söldnertruppe am vergangenen Samstag gegen die russische Regierung und seine Militärführung, die Putin selber als abgrundtiefen «Verrat» bezeichnet hat, ist erneut ein glasklarer Beweis dafür, dass der Kremlchef sich bei zentralen Entscheidungen zum Ukraine-Krieg völlig verrechnet hat.
Gescheiterter Blitzkrieg und Marsch auf Kiew
Kein halbwegs klar denkender Beobachter wird im Ernst bestreiten, dass Putin nie und nimmer erwartet hatte, die sogenannte militärische Spezialoperation gegen das westliche Nachbarland werde auch nach beinahe anderthalb Jahren immer noch im Gange sein. Und bestimmt hat sich Putin nicht träumen lassen, dass er nach einem mehr als einjährigen Kriegseinsatz weniger als zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums kontrollieren würde. Offenbar hatte er damit gerechnet, dass der «Anschluss» der Ukraine an Russland ähnlich blitzartig und weitgehend ohne eigene Verluste ablaufen könne, wie das acht Jahre zuvor mit dem russischen Husarenritt auf die Krim geklappt hatte. Wahrscheinlich hatten ihn auch seine Geheimdienst-Leute in diesem fatalen Irrtum bestärkt – oder der selbstherrliche Kremlchef hat etwaige Bedenken einfach beiseite gewischt.
Als krasse Fehlentscheidung Putins erwies sich in der ersten Phase des russischen Überfalls auch der Versuch, die ukrainische Hauptstadt Kiew durch den Einsatz von Fallschirmtruppen und eine 60 Kilometer lange Kolonne von Militärfahrzeugen zu erobern. Dieser offenkundig schlecht geplante und mit Illusionen gestartete Feldzug scheiterte schon nach kurzer Zeit und die russischen Truppen mussten sich aus der Umgebung von Kiew zurückziehen. Die Verantwortung für diesen schweren Fehlschlag geht auch auf Putins Konto, denn zweifellos haben seine Generäle den Marsch auf Kiew nicht ohne dessen ausdrückliche Zustimmung begonnen.
Der Protégé probt den Putsch
Die Prigoschin-Revolte vom Samstag ist das jüngste Beispiel einer eklatanten Putinschen Fehlkalkulation. Putin ist mit dem kriminell einschlägig belasteten Söldnerführer und Geschäftsmann, der wie er aus St. Petersburg stammt, seit vielen Jahren bekannt und hat ihn bei seinen zahlreichen dubiosen Unternehmungen im In- und Ausland stets protegiert. Dass Prigoschin mit seiner Söldnertruppe, die er mit Zustimmung des Kremls zum grossen Teil aus Gefängnis- und Gulag-Häftlingen rekrutierte, im Ukraine-Krieg eine zunehmend prominente Rolle spielen konnte, war schon seltsam genug.
Aber dass der glatzköpfige Abenteurer seit Monaten die offizielle russische Militärführung in sozialen Medien aufs Vulgärste als unfähige, korrupte und feige Hanswurste beschimpfen konnte, ohne dass der oberste Machthaber im Kreml je gegen dieses Treiben einschritt, entzog sich dem rationalen Verständnis einer funktionierenden Staats- und Armeeführung.
Manche Beobachter erklärten sich Putins auffällige Nachsicht und Toleranz gegenüber Prigoschins Provokationen und Tiraden mit der Taktik des Kremlchefs, in seinem Machtapparat nach dem klassischen Prinzip «teile und herrsche» ein Gegengewicht zur offiziellen Militärführung zu fördern, um so eventuellen Macht- oder Putschgelüsten unter seinen Generälen vorzubeugen.
Aber was immer Putins Motive gewesen sein mögen, seinen alten Bekannten Prigoschin und dessen immer schrillere Eigenmächtigkeiten gewähren zu lassen – er hat sich damit monumental verrechnet. In der Nacht auf den vergangenen Samstag musste er einsehen, dass er naiverweise eine Schlange an seinem Busen genährt hatte. Seine eigene Skrupellosigkeit und Durchtriebenheit in Machtfragen hatte ihn nicht erkennen lassen, dass sein Spiessgeselle Prigoschin, der direkte Kritik an Putin weitgehend vermieden hatte, eines Tages selber nach der Macht im Staate greifen und seine Truppen gegen Moskau losschicken könnte.
Die «Verräter» werden laufen gelassen
In seiner Fernsehrede am Samstagmorgen geisselte Putin aufs schärfste die «Verräter», die gegen die Armee meuterten, in Rostow am Don unweit der ukrainischen Grenze die dortige Armee-Garnison kampflos unter ihre Kontrolle gebracht hatten und weitere Eroberungen anstrebten. Diese «Verräter» würden von der Justiz und vom russischen Volk aufs Härteste bestraft. Den Namen seines langjährigen Protégés Prigoschin, dem Anführer des Verrats, brachte er nicht über die Lippen.
Die Ungereimtheiten in Putins Reaktion auf die Prigoschin-Rebellion werden noch krasser. Einige Stunden später, nachdem der Söldnerführer selber den Abbruch seines Aufstandes und die Rückkehr seiner Truppen ins Feldlager verkündet hatte, erklärt der Kremlsprecher, dem Söldnerführer werde ein straffreies Exil in Belarus gewährt und auch gegen seine meuternden Soldaten gebe es wegen ihrer Leistungen an der ukrainischen Front keine weiteren Verfahren. Also das pure Gegenteil von den harten Strafen, die Putin am Samstag den «Verrätern» angedroht hatte.
Hinzu kommt der Umstand, dass Putin offenbar das Ende der Meuterei nicht allein aus eigener Kraft herbeiführen konnte, sondern dazu auf die angebliche Vermittlung des belarussischen Machthabers Lukaschenko angewiesen war. Dieser hängt zwar seit der brutalen Niederschlagung ziviler Proteste gegen gefälschte Wahlen vor drei Jahren vollständig am Tropf des Kremls. Nun scheint zumindest im Moment auch Putin bis zu einem gewissen Grad von der absoluten Loyalität seines Minsker Genossen abhängig geworden zu sein. Wird er zuverlässig dafür sorgen, dass vom «Verräter» Prigoschin im weissrussischen Exil künftig keine Gefahr mehr für Moskau ausgeht?
Hoffnungsschimmer für die Ukraine
Sicher ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung erleichtert darüber, dass der Spuk der Militärrevolte schon nach einem Tag wieder abgeblasen worden ist und die Schreckensszenarien eines möglichen Bürgerkrieges und grösseren Blutvergiessens gebannt scheinen. Doch die Verhältnisse bleiben unberechenbarer denn je seit Beginn des mörderischen Ukraine-Krieges. Die Prigoschin-Meuterei hat offenbart, dass Putin nicht alle Fäden der Macht und der Entscheidung so sicher kontrolliert, wie das die meisten glaubten. Und selbst seine treuesten Claqueure im In- und Ausland werden einräumen müssen, dass Putins langmütige Toleranz für die Machenschaften und Provokationen seines St. Petersburger Protégés ein gewaltiger Fehler war. Putins Autorität und das Vertrauen in seine Urteilsfähigkeit, das im Schatten des scheinbar endlosen Ukraine-Krieges selbst in seinem eigenen Machtbereich wohl nicht durchwegs intakt war, ist im Moment unübersehbar geschwächt.
Für die Moral und das Selbstvertrauen der überfallenen Ukrainer ist das zweifellos eine aufmunternde Nachricht. Aber ob sich daraus auch konkrete Folgen für das Kriegsgeschehen oder gar Indizien für ein Ende von Putins blutigem Feldzug ergeben werden, kann niemand wissen.