Einen Tag vor dem Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeuges haben die USA und die EU ihre punktuellen Sanktionen gegen bestimmte russische Funktionäre und Kreml-nahe Firmen verschärft. Dies mit der Begründung, dass Moskau seine waffenmässige und personelle Einmischung in der Ostukraine entgegen anderslautenden Zusagen weiter betreibe. Putin hat diese zusätzlichen Massnahmen noch am Mittwoch während seines Aufenthaltes in Brasilien als ungerechtfertigt kritisiert. Sie führten nicht nur die amerikanisch-russischen Beziehungen in eine Sackgasse und hätten auch für westliche Firmen, die mit den betroffenen russischen Firmen zusammenarbeiteten, einen „Bumerangeffekt“.
Brüsten mit früheren Flugzeugabschüssen
Putin und seine Kreml-Genossen konnten zum Zeitpunkt solcher Äusserungen nicht ahnen, dass sie kurz darauf mit einem andern Bumerang konfrontiert würden, dessen Lancierung sie selbst entscheidend mitverursacht hatten. Zwar ist bisher noch nicht unzweideutig geklärt, wer genau das Flugzeug der Malaysian Airlines mit 298 Personen an Bord am Donnerstag in der Nähe von Donezk in der Ostukraine abgeschossen hat. Diese Frage muss zweifelsfrei beantwortet werden. Doch die bisher bekanntgewordenen Indizien belasten die ostukrainischen Separatisten, die von russischer Seite aufgerüstet werden,aufs schwerste.
Zum einen hatten diese Separatisten in den Tagen zuvor bereits zwei ukrainische Militärmaschienen abgeschossen. Und zum andern hatten sie sich Ende Juni im Internet damit gebrüstet, über eine Flugabwehreinheit vom Typ Buk zu verfügen, mit dem die malaysische Maschine mit hoher Wahrscheinlichkeit zerstört wurde. Allerdings widersprechen sich die Behauptungen darüber, ob dieses System direkt von Russland an die Rebellen geliefert wurde oder ob die Separatisten dieses von der ukrainischen Armee erbeutet haben.
Mitverantwortung für die Blackbox
Keine Zweifel aber kann es wohl darüber geben, dass die ostukrainischen Separatisten und der Kreml dafür verantwortlich sind, was mit der Blackbox der abgestürzten Maschine geschieht. Zunächst hatten ja nur die Rebellen Zugang zum Wrack des Flugzeuges und diese Rebellen kontrollieren auch die Arbeit und den Bewegungsspielraum der inzwischen eingetroffenen internationalen Fachleute. Dass Moskau wiederum genau weiss, was sich am Umfallort abspielt und ob die Blackbox bereits aufgefunden wurde, ist ebenfalls schwer bestreitbar. Denn immerhin haben die beiden bekanntesten Anführer der Separatisten, Girkin und Borodai (letzterer bezeichnet sich als „Premierminister der Volksrepublik Donezk“) einen russischen Pass und beide sind aus Moskau angereist, bevor sie sich in der Ukraine mit andern Söldnern aus der russischen Föderation als Kämpfer engagierten.
Wenn Putin seine Beteuerung, er unterstütze eine umfassende Aufklärung der Flugzeugtragödie in der Ostukraine mit glaubwürdigen Taten belegen will, dann muss er dafür sorgen, dass die Blackbox, die wahrscheinlich präzisere Informationen über den Ablauf des Unglücks liefern kann, umgehend und unversehrt in die Hände der internationalen Untersuchungsorgane kommt. Putins atemraubend zynischen Bemerkung, weil der Flugzeugabsturz sich über ukrainischem Territorium ereignet habe, trage die Ukraine auch die Verantwortung für die ganze Tragödie, wird in der Öffentlichkeit selbst bei konstruktiverer Kooperation nicht so bald vergessen.
Westliche Sanktionen sind nicht zahnlos
Der Kremlchef dürfte aber nach dem weltweiten Entsetzen über den Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges durchaus sachliche Gründe haben, seine bisher skrupellose Unterstützung für die ostukrainischen Separatisten selbstkritisch zu überprüfen. Sollte sich definitiv bestätigen, dass die Rebellen mit russischen Raketen diese Maschine – wenn auch irrtümlich – zerstört haben, dann wird Putin seine Mitverantwortung für diese Tragödie auch mit sehr viel Propaganda-Aufwand kaum mehr von sich schieben können.
Gewichtiger aber wird in der Kreml-Rechnung der Umstand zu Buche schlagen, dass die bisher verhängten Strafmassnahmen der USA und der EU den Moskauer Machthaber keineswegs gleichgültig sind. Es handelt sich um Sanktionen, die einerseits gezielt einige Dutzend einflussreiche Funktionäre und Manager des Putinschen Machtsystems treffen. Gegen diese wird eine Einreisesperre- sowie die Blockierung persönlicher Vermögenswerte in den USA und im EU-Raum verhängt. Ausserdem werden das staatlich kontrollierte Erdölunternehmen Rosneft, die private russische Erdgasfirma Novatek, die beiden Finanzinstitute Gazprombank und Vneshneconombank sowie acht russische Rüstungsfirmen vom amerikanischen Kapitalmarkt weitgehend abgeschnitten. Die EU wiederum stoppt Investitionsprojekte über 600 Millionen Euro, die von der Europäischen Investitionsbank für das kommende Jahr in Russland vorgesehen waren.
Diese erweiterten Strafmassnahmen sind in ihrer Gesamtwirkung durchaus nicht zahnlos, wie einige Kritiker im Westen behaupten und wie Moskauer Propagandisten mit gespieltem Schulterzucken suggerieren. Einem abgebrühten Drahtzieher wie dem Rosneft-Chef Igor Setschin dürfte es auf längere Sicht nicht gleichgültig sein, wenn er nicht mehr nach London oder New York reisen und nicht mehr über seine im Westen – zweifellos vorhandenen – Vermögenswerte verfügen kann.
Chodorkowski für personelle Strafmassnahmen
Der ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski, der wegen Kollisionen mit Putins Machtinteressen zehn Jahre in russischen Straflagern und Gefängnissen verbracht hatte und seit einigen Monaten in der Schweiz wohnt, hat unlängst in einem Gespräch betont, solche gezielten materiellen Strafmassnahmen gegen bestimmte Führungsfiguren im Dunstkreis des Kremls seien absolut sinnvoll, weil sie weitherum in der russischen Bevölkerung verstanden und gebilligt würden. Denn im Volk sei man allgemein überzeugt, dass diese Funktionäre sich schamlos bereicherten und grosse Teile ihrer Beute im Ausland horteten, statt im Inland zu investieren. Chodorkowski hält dagegen aus psychologischen Gründen weniger vorn Sanktionen gegen bestimmte Wirtschaftszweige in Russland, weil damit ja das ganze Volk getroffen würde, was die Identifikation mit Putin nur unnötig zementiere. Dessen Popularität ist in Russland zwar gegenwärtig sehr breit gespannt, doch einige erfahrene Beobachter halten sie für nicht besonders tief verwurzelt.
Sollten sich die zurzeit erkennbaren Stagnationstendenzen in der russischen Wirtschaft zu einem längeren Dauerzustand verfestigen, dann wird sich die seit dem Husarenritt auf die Krim neu entfachte Begeisterung für Putin nicht unbegrenzt mit nationalistischen Aufwallungen aufrechterhalten lassen. Dem Präsidenten und seiner Entourage ist das wohl bewusst – und deshalb dürfte man im Kreml über die erweiterten Wirtschaftssanktionen des Westens und der Gefahr zusätzlicher Verschärfungen ernsthaft beunruhigt sein. Laut Schätzungen der Weltbank sind allein in diesem Jahr Kapitalien im Umfang von 100 bis 120 Milliarden Dollar aus Russland abgezogen worden – kein gutes Zeichen für weitere Investitionen in die dringend notwendige Modernisierung der Wirtschaft.
Kurskorrektur im Kreml?
Diese negativen Entwicklungen werden sich vertiefen, wenn Putin nach dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeuges nicht einsieht, dass er mit seiner unverfrorenen Aufrüstung prorussischer Separatisten und Söldnertruppen in der Ostukraine entschieden zu hohe Risiken eingegangen ist. Wenn der Kremlchef gravierende weitere Bumerang-Schäden für sich und sein Land vermeiden will, wird er um Kurskorrekturen an dieser Krisenfront nicht herumkommen. - Es sei denn, eine unabhängige Untersuchung würde schliesslich hieb und stichfest beweisen, dass die separatistischen Kämpfer nichts mit dem Absturz des malaysischen Flugzeuges zu tun hatten. Aber das scheint inzwischen nur noch eine theoretische Spekulation zu sein.