Leider gibt es keinen Anlass, der Lagebeurteilung des chinesischen Staatschefs Xi Jinping zu widersprechen. Die «Mentalität des Kalten Kriegs und der Blockpolitik» ist zurückgekehrt, sagte er beim Gipfeltreffen im usbekischen Samarkand.
Ginge es doch nur um einen Kalten und nicht um einen heissen Krieg, jenen Russlands gegen die Ukraine! Und nun droht auch noch ein Konflikt um Taiwan – und allenfalls in absehbarer Zeit auch noch um Iran!
Die «Shanghai Cooperation Organisation» (SCO), Plattform für die aktuelle Konferenz in Samarkand, wurde aus westlicher Perspektive lange Zeit nicht richtig ernst genommen. Gegründet wurde sie 2001 auf Initiative Russlands und Chinas mit dem vorrangigen Ziel, die Sicherheitspolitik (als Reaktion vor allem auf den al-Qaida-Terror und Bombenattentate, für die der Kreml Tschetschenen verantwortlich machte) zu koordinieren, im Klartext: die Geheimdienste und Innenministerien miteinander besser zu vernetzen. Vier der fünf Staaten Zentralasiens (abseits blieb Turkmenistan, das sich als neutral bezeichnet) traten bei, dann auch noch Indien und Pakistan.
Neue Erdgasleitung
Bei uns im Westen machte auch kaum Eindruck, dass die SCO um ihren Kern noch drei weitere Kreise von Staaten in eher unverbindlicher Weise an sich binden konnte: Da gibt es Länder mit Beobachterstatus, ausserdem Dialogpartner, Gastteilnehmer und noch etwas weiter draussen im politischen Weltraum den Kreis von Staaten, die «Interesse bekundet» haben.
Beim aktuellen Gipfel in Samarkand zeichnete sich erstmals ab, in welchen Bereichen diese SCO konkret werden will und wohl auch kann: innerhalb des engsten Zirkels (Russland, China) in begrenzter Weise militärisch (Koordination, gemeinsame Manöver) und im nächsten «Kreis» (Beteiligung von Zentralasien) wirtschaftlich.
Der Bereich der Wirtschaft ist von besonderem Interesse. Da wurden, am Rande des Gipfeltreffens in Samarkand, auch konkrete Beschlüsse gefasst, unter anderem, dass Russland und China gemeinsam eine weitere Erdgasleitung bauen werden, «Kraft Sibirien 2» mit Baubeginn 2024 und einer Kapazität vergleichbar jener von «Nord Stream 2» (die ja nicht in Betrieb genommen wird). Und auch die Leistungsfähigkeit von «Kraft Sibirien 1», die bereits besteht, werde bis 2024 so gesteigert, dass auch durch diese Röhre pro Jahr 20 Milliarden Kubikmeter Gas gepumpt würden.
Alternatives Zahlungssystem
Wäre nicht China an diesen Projekten beteiligt, könnte man skeptisch einwerfen, dass es sich da wohl nur um vage Ideen handele – aber die Erfahrung hat gezeigt, dass China all das realisiert, was es sich zum Ziel gesetzt hat. Und meistens auch innerhalb des angekündigten Zeitrahmens. Also sollten wir – die «Westler» – vielleicht auch unsere Zweifel begraben, ob es dieser SCO bald einmal gelingen wird, ein eigenes, funktionierendes System für grenzüberschreitende Geldtransfers in grossem Ausmass auf die Beine zu stellen, eine echte Konkurrenz zu SWIFT also, das, wenn auch physisch in Westeuropa angesiedelt, letzten Endes unter der «Fuchtel» US-amerikanischer Bankiers steht. Wir müssen oder dürfen davon ausgehen: Dieses Alternativ-System wird kommen, früher oder später. Dann wird es möglich, beispielsweise, von den USA (auch von der EU) erlassene Sanktionen zu umgehen oder zu ignorieren. Das heisst: Die Macht westlicher Institutionen wird abnehmen.
Ja, die Blockbildung, das heisst die harte Trennung in «West» und «Nicht-West», sie macht Fortschritte. Xi Jinping vertauscht oder verwechselt zwar Aktion und Reaktion (in seiner Weltsicht trägt der Westen, trägt die Nato die Schuld am Konflikt und den Spannungen, nicht Putins Russland), aber Politikern in fast ganz Asien, Mittelost und Afrika scheint diese Argumentation plausibel – jedenfalls beteiligen sich, global, um die 150 Länder nicht an Sanktionen gegen Russland, und die Chefs jener Staaten, die jetzt, beim SCO-Gipfel in Samarkand, vertreten waren, hüteten sich davor, zum Krieg Russlands gegen die Ukraine Stellung zu beziehen.
Nicht einmal der Repräsentant des einzigen demokratischen SCO-Staates, Indiens Narendra Modi, rang sich zu klaren Worten durch. Und der Präsident Kasachstans, Kassym-Schomart Tokajew, der sich in den letzten Monaten überraschend eigenständig gegen Putins Krieg ausgesprochen hatte, übte sich bei diesem Gipfel ebenfalls in diplomatisch-diskreter Zurückhaltung. Was nicht so gedeutet werden sollte, dass Tokajew und/oder die anderen Präsidenten der zentralasiatischen Länder nicht nach einer halbwegs eigenständigen Linie suchen würden. In unterschiedlicher Weise tun sie das, letzten Endes immer im Wissen, dass für sie alle China wichtiger ist als Russland, im Wissen aber auch, dass sie es sich mit Putins Russland nicht «verderben» sollten, denn das könnte unabsehbare Konsequenzen haben.
Der Kult um Timur Lenk
Nun fliegen sie alle, die Staats- und Regierungschefs mit ihren Delegationen, zurück in ihre eigenen Länder und Machtzentralen. Was ihnen an Erinnerung an Samarkand bleibt, wissen wir nicht – mir aber, unter anderem, dies: Geht man in Samarkand von jenen grossartigen Bauwerken, die in sämtlichen Reiseführer-Broschüren und auf allen Postkarten «verewigt» werden, vom «Registan» (einem Komplex von Medressen und Moscheen um einen wunderbar harmonischen Platz), etwa zwanzig Minuten weiter, gelangt man zum «Gur Emir», dem Mausoleum von Timur Lenk oder, wie er im deutschsprachigen Raum auch genannt wird, von Tamerlan, also dem Brutalo-Herrscher, der im 15. Jahrhundert weite Teile der Region Zentralasiens, des Mittleren Ostens und des Indus-Gebiets unterjochte und sich, unter anderem, dadurch «auszeichnete», dass er Stadtkulturen auslöschte, die Menschen der eroberten Gebiete ermorden und aus ihren Schädeln Pyramiden errichten liess. Timur Lenks Diktatur fielen Hunderttausende, wahrscheinlich Millionen Menschen zum Opfer. Er war, klar, ein Massenmörder.
Nun treten wir, bei unserem Spaziergang durch Samarkand, ins Mausoleum dieses Massenmörders ein. Als Erstes bedeutet man uns: Bitte ruhig sein, kein lautes Wort, besser noch ein stilles Gebet. Und, tatsächlich, alle Usbekinnen, Usbeken, die hierher kommen, verhalten sich so, als würden sie eine heilige Stätte besuchen. Für sie ist Timur Lenk jener Staatsmann, der Samarkand erbauen liess, nicht der Zerstörer ungezählter anderer Kulturen, Länder, Völker.
Wieder draussen, in der Nähe des Mausoleums: eine für unseren Geschmack etwas pathetische Statue, Timur Lenk auf einem Pferd. Und davor: mehrere Hochzeitspaare, die für den Moment der Aufnahme vor dem Monument, klar, den Fotografen organisiert haben. Klick, klick, klick – ein paar Aufnahmen für die Familie, die künftigen Kinder, die Enkel, für wen auch immer.
Samarkand mit dem Timur-Kult – keine Stadt hätte sich besser geeignet als Rahmen für ein Gipfeltreffen von Autokraten und Diktatoren, wie Putin und Xi Jinping.