Im Windschatten der Ukraine-Krise und des unverfrorenen Zugriffs Russlands auf die Krim hat der Begriff Putin-Versteher beachtliche Karriere gemacht. Der Ausdruck wird meist in kritisch-ironischem Sinne verwendet, und zwar von jenen Kommentatoren, die sich über die häufig verbissenen Verteidiger des Kremlchefs und dessen imperiales Gehabe ärgern oder mokieren.
Comprendre c’est tout pardonner?
Doch grundsätzlich ist diese negative Einfärbung des Begriffs Putin-Versteher fehl am Platz. Was soll abwegig daran sein, wenn man in der Politik oder in andern Lebensbereichen bestrebt ist, einen Gegenspieler oder Verhandlungspartner zu verstehen? Der renommierte Historiker Christopher Clark, dessen Buch „Die Schlafwandler“ über die Auslösung des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren Furore macht, hat dieser Tage in einem Interview mit der „NZZ am Sonntag“ festgestellt: „Kann sich niemand in den andern hineinversetzen, besteht die Gefahr, dass alle automatisch zu den Waffen greifen.“ Putins Motive für die handstreichartige Einverleibung der Krim in den russischen Landkoloss zu ergründen und zu verstehen, kann deshalb nicht falsch sein.
Eine andere Sache ist es indessen, ob man diese Motive auch akzeptiert, ob man also die ohne Verhandlungen und unter Bruch von bestehenden Verträgen vollzogene Annexion der Krim als gerechtfertigt einstuft. Oder ob man bei aller Einsicht in Putins Beweggründe – die in erster Linie machtmässiger Natur sind und der Kränkung seiner russischen Seele über die Implosion des Sowjetimperiums entspringen – die Meinung vertritt, dass diese Art des „Anschlusses“ der Krim an Mütterchen Russland im 21. Jahrhundert nicht einfach geschluckt werden sollte, sondern nach Sanktionen verlangt. Da trennen sich die Wege unter den Putin-Verstehern.
Und Kosovo, Panama, Irak?
Hier wollen wir uns hauptsächlich mit der ersten Kategorie der Putin-Versteher beschäftigen. Es sind diejenigen, die sich für den Standpunkt ins Zeug legen, gegen Putins rasanten Zugriff auf die Krim sei eigentlich nicht viel einzuwenden. Schliesslich habe die Halbinsel ja bis zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion zu Russland gehört und die Mehrheit der dortigen Bevölkerung wünsche offensichtlich die Rückkehr ins Moskowiter Reich. Fragen über die Seriosität und Neutralität des in kürzester Frist durchgezogenen Referendums ohne ausländische Beobachter werden dabei kaum diskutiert.
Ausserdem, so argumentiert diese Spezies der Putin-Versteher, hätten westliche Länder sich ja auch für die Abtrennung Kosovos von Serbien militärisch engagiert. Dass dort schwere Kämpfe zwischen der serbischen Armee gegen kosovarische Rebellen und teilweise auch gegen die dortige Zivilbevölkerung im Gange waren, wird von den Putin-Verstehern grosszügig ignoriert. Ausgeblendet wird ebenso die Tatsache, dass es darauf Jahre dauerte, bis westliche Staaten die Unabhängigkeit Kosovos anerkannten – und dass Russland die Abspaltung Kosovos weiterhin scharf kritisiert, im Gegensatz zur jetzigen Abspaltung der Krim.
Auch andere Beispiele völkerrechtlich nicht sanktionierter Interventionen der letzten Jahrzehnte führen die Putin-Versteher ins Feld. Etwa den Eingriff der USA in Panama oder den mit falschen Behauptungen gerechtfertigten Einmarsch unter Präsident Bush junior in Irak. Das ist zutreffend, doch um eine zeitlich unbegrenzte territoriale Annexion wie im Falle der Krim handelte es sich bei diesen Beispielen nicht. Das müsste man zumindest mit erwähnen.
Wüten gegen den Mainstream
Charakteristisch ist für die unbedingten Putin-Versteher – also diejenigen, die seinen Husarenritt auf die Krim mehr oder weniger offen akzeptieren und Sanktionen für abwegig, heuchlerisch oder unmoralisch halten – , dass sie gleichzeitig reflexartig gegen die sogenannten Mainstream-Medien im Westen vom Leder ziehen. Weil diese Putins eigenmächtige Annexion mehrheitlich kritisch beurteilen, vertreten viele Putin-Versteher vehement die Meinung, diese Mainstream-Medien zappelten allesamt am Gängelband der USA oder wenigstens der CIA, der EU, der Nato, des Grosskapitals – oder an den Fäden all dieser üblen Mächte zusammen.
Dass die vielzitierten Mainstream-Medien durchaus unterschiedliche Akzente setzen und ausserdem auch konträre Meinungen zum Krim-Ukraine-Russland-Komplex verbreiten, passt dann wiederum nicht ins kompakte Feindbild der Putin-Versteher und wird deshalb der Einfachheit halber unterschlagen.
Wird Russland eingekreist?
Zu den Standard-Argumenten der unbedingten Putin-Versteher gehört weiter die Behauptung, der Westen habe seit der Auflösung des Sowjetstaates das bedrängte Russland immer enger eingekreist. Zu dieser angeblichen Einkreisung gehörte die Aufnahme der früheren kommunistischen Satelliten oder Sowjetrepubliken wie Polen, Tschechien, Ungarn oder der baltischen Staaten sowohl in die EU als auch in die Nato.
Man kann diese Nato- und EU-Erweiterung aus einer radikal einseitigen Kreml-Perspektive als Einkreisung interpretieren. Aber haben die unbedingten Putin-Versteher sich je die Frage gestellt, weshalb wohl Länder wie Polen, Tschechien oder Litauen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so energisch danach strebten, in die EU und in die Nato aufgenommen zu werden? Hatte der Drang dieser Völker, die zuvor jahrzehntelang unter der Kreml-Knute gelebt hatten, sich den westlichen Bündnissystemen anzuschliessen, irgendetwas mit Einkreisungsabsichten gegenüber der früheren Imperialmacht zu tun?
Hausaufgaben für Putin-Versteher und Ukraine-Versteher
Putin-Versteher der einseitigen Sorte zeichnen sich dadurch aus, dass sie für die Taten und Motive des russischen Machthabers grosszügiges Verständnis aufbringen. Dieses Verständnis wäre glaubwürdiger, wenn sie in der laufenden Ukraine-Krim-Krise sich darum bemühen würden, gelegentlich auch in die Position der Ukraine-Versteher zu schlüpfen – und umgekehrt. Dies wiederum könnte zur Einsicht verhelfen, dass in diesem vielschichtigen, von widersprüchlichen historischen Erfahrungen, Verletzungen und Ängsten überlagerten Konflikt keine Seite Recht, Moral und Wahrheit allein für sich beanspruchen kann.
Die Entschärfung von Konflikten beginnt in der Regel damit, dass alle am Streit Beteiligten versuchen, sich auch in die Denk- und Empfindungsweise der andern Parteien hineinzuversetzen, wie der oben zitierte Historiker Christopher Clark im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg empfohlen hat. Putin-Versteher sind deshalb durchaus nicht auf einer falschen Fährte, wie manche ihrer Kritiker durchblicken lassen – sofern sie sich ernsthaft und mit ähnlicher Verve auch mit den Beweggründen von Putins Kontrahenten auseinandersetzen.