Weil der Begriff Putin-Versteher inzwischen diskreditiert ist, bezeichnen die Putin-Apologeten sich jetzt als angebliche Russland-Versteher. Das ist meist eine Ausrede. Viele sogenannte Putin-Versteher waren vorher Putin-Claqueure.
Zunächst eine notwendige Klarstellung. Der Ausdruck Putin-Versteher muss nicht grundsätzlich ein negativer Begriff oder gar ein Schimpfwort sein. Diesen verpönten Beigeschmack hat er allgemein erst seit dem mörderischen Überfall Putins auf die Ukraine bekommen. Putin-Versteher gelten heute im gängigen Sprachgebrauch als Putin-Claqueure, die im Prinzip gutheissen oder zumindest Verständnis für alles signalisieren, was der Kremlherrscher tut. Das ist allerdings eine unscharfe Definition. Man kann Putins Handlungsmotive und Denkmuster auch zu verstehen versuchen und möglicherweise sogar stringent erklären, ohne diese deshalb zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen.
Angebliche Demütigung des Kremls
Es gibt somit durchaus glaubwürdige «Putin-Versteher» im genuinen Sinne des Wortes. Zu diesen zählen viele bekannte Historiker und Russland-Spezialisten, wie etwa Karl Schlögel, der in der Schweiz lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin oder der Ukraine-Kenner Andreas Kappeler. Auch der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowski, der von Putin nach einem manipulierten Prozess für zehn Jahre in ein Straflager weggesperrt wurde und heute in London lebt. Er hat dieser Tage in einem Beitrag für den britischen «Economist» den Kreml-Diktator als «Gangster» bezeichnet, der niemals seine mafiöse KGB-Denkweise ändern werde.
Diese kritischen Putin-Versteher unterscheiden sich somit fundamental von den verharmlosenden Putin-Verstehern. Letztere argumentieren aus irgendwelchen naiven oder romantischen Gründen, aus narzisstischem Besserwisser-Reflex oder einfach aus schnödem Marktkalkül, der russische Angriffskrieg in der Ukraine sei zwar eine schreckliche Entwicklung. Doch gleichzeitig müsse man auch die Vorgeschichte berücksichtigen, Putin sei vom Westen immer wieder «gedemütigt» worden, die erweiterte Nato bedeute aus Moskauer Sicht eine echte militärische Bedrohung für Russland und die Ukraine habe ja historisch immer zum russischen Reich gehört. Aus diesen und andern Gründen könne man die Verantwortung für diesen tragischen Krieg nicht allein Putin zuschieben.
Nicht wenige der verharmlosenden Putin-Versteher gerierten sich bis zum Einmarsch in die Ukraine aber auch gerne als ziemlich unverblümte Putin-Claqueure. Der Welt-Erklärer und SVP-Nationalrat Roger Köppel etwa verhehlte nicht seine Bewunderung für den «überlegenen Strategen» im Kreml und feierte ihn gar als «wandelnde Kriegserklärung an den Zeitgeist» und als Garant für die Werte echter Männlichkeit oder als Augenöffner für die unausweichliche, aber verdrängte Realität des Krieges. Der «Weltwoche»-Chef ist bei weitem nicht der einzige Zeitgenosse im Westen, der in solchen kultischen Kategorien über den zum Diktator mutierten Moskauer Machthaber denkt.
Angesichts des blutigen Kriegsgeschehens in der Ukraine, des millionenfachen Flüchtlingsstroms und der kaum mehr zu übersehenden Fehlkalkulationen des «überlegenen Strategen» im Kreml wollen nun aber auch die anbiedernden Putin-Versteher respektive Putin-Claqueure nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Deshalb sind ihre Elogen, Rechtfertigungen und Beschönigungen für den Kriegsherrn in Moskau verstummt.
Man erklärt sich jetzt unverfänglicher als «Russland-Versteher». Das heisst man bekundet sein Interesse für die russische Geschichte, das Entsetzen für Stalins Verbrechen, die Begeisterung für russisches Eishockey und betont, dass das christlich geprägte Russland doch Teil der europäisch-abendländischen Kultur sei und die Amerikaner in der Ukraine eben doch zu wenig Rücksicht auf russische Empfindlichkeiten genommen hätten.
«Zwei Russenvölker»
In Wirklichkeit sind das durchsichtige Manöver zur Ablenkung von der früheren Putin-Verklärung. Gewiss gibt es viele gute Gründe, von Russland fasziniert zu sein und sich unerschöpflich für seine Kultur, seine reichhaltige Literatur, seine widersprüchliche Geschichte, für seine Leiden und Triumphe, seine vielfältigen Städte und unendlichen Landschaften zu interessieren, wo wie in allen Ländern herzensgute und abgrundtief verkommene Menschen wohnen. Doch das ist kein Argument, die klare Verantwortung des Kriegstreibers Putin für das Töten und die Zerstörungen in der Ukraine und die immer gnadenlosere Repression von Andersdenkenden im eigenen Lande zu relativieren oder die früheren Anbiederungen zu bemänteln.
Bei aller individuellen und kulturellen Vielfalt hat es im Sinne der russischen Mentalität und Herrschaftstradition immer «zwei Russenvölker» gegeben, betont der Schriftsteller Michail Schischkin in seinem Buch «Frieden oder Krieg», das er zusammen mit dem deutschen Journalisten Fritz Pleitgen verfasst hat. Der Hauptstrang dieser Tradition fusst seiner Ansicht nach auf einer russischen autoritären Kontinuität, die wiederum von den Überlieferungen während des sogenannten Tatarenjochs und durch die Übernahme des byzantinisch-orthodoxen Christentums genährt wurde. Das «andere Russland» aber ist für den Autor das Land von Puschkin, Tschechow, Alexander Herzen, Lew Tolstoi, Rachmaninow, Brodsky oder Sacharow.
Trotz seiner pessimistischen Einschätzung der russischen Gegenwart hält Schischkin eine Tendenzwende in Richtung zu mehr geistiger Freiheit und Rechtsstaat nicht für grundsätzlich unmöglich. Allerdings müsse dazu «das Imperium aus den Köpfen und Seelen wie ein bösartiger Tumor entfernt werden». Er weist darauf hin, dass auch die schnelle Auflösung des Sowjetimperiums eine Art Wunder in der russischen Geschichte gewesen sei, mit dem damals kaum jemand gerechnet hatte.
Ob sich in diesem Land in absehbarer Zeit je wieder eine Chance zu einem demokratisch inspirierten Entwicklungsweg eröffnen wird, steht in den Sternen. Entscheidend ist aber im Moment die unumstössliche Einsicht, dass Putin nach anfänglichen Avancen zur Annäherung an den Westen sich inzwischen mit Haut und Haar der imperial-totalitären Herrschaftstradition verschrieben hat. Wer das mit rhetorischen Volten verharmlost und als verständliche Folge westlicher Arroganz rechtfertigt, ist kein echter Russlandversteher, sondern ein Putin-Claqueur.