Dass Präsident Putin persönlich hinter dem Gesetz steht, das die Adoption von russischen Waisenkindern durch amerikanische Bürger verbietet, ist keine Frage. Erstens wäre dieses Gesetz ohne seine Billigung wohl gar nie von der Duma verabschiedet worden, denn im russischen Parlament fallen kaum je Beschlüsse ohne Putins Placet und der von ihm kontrollierten Kremlpartei. Zweitens hätte er ja als Präsident die Unterzeichnung des abstrusen Anti-Adoptionsgesetzes verweigern können.
Der Fall Magnitski – ein Skandal
Diese Massnahme ist die russische Antwort auf das sogenannte Magnitski-Gesetz, das vom amerikanischen Kongress erlassen wurde. Es bezieht sich auf den russischen Anwalt Sergei Magnitski, der 2009 in einem Moskauer Gefängnis unter völlig dubiosen Umständen verstorben war. Magnitski war als Anwalt eines in London domizilierten Hedgefonds tätig, dessen Leiter der US-Bürger Bill Browder, war beim Kreml in Ungnade gefallen und damit in Russland nicht mehr aktionsfähig.
Magnitski hatte im Zusammenhang mit diesen Vorgängen eine gigantische Steuerbereicherungs-Verschwörung im Wert von 230 Millionen Dollar durch russische Beamte aufgedeckt und entsprechende Klagen eingereicht. Darauf wurde Magnitski selber wegen eines angeblichen Steuerdelikts verhaftet. Er starb 37-jährig, sieben Tage vor Ablauf der maximal möglichen einjährigen Untersuchungshaft, weil man dem an der Bauchspeicheldrüse erkrankten Anwalt jede adäquate medizinische Behandlung verweigert hatte.
Alle an dem Fall Magnitski beteiligten Offiziellen sind in Russland freigesprochen oder gar nie angeklagt worden. Aufgrund einer Kampagne von Browder, dem rührigen Chef des Finanzunternehmens, für das Magnitski gearbeitet hatte, verfügte der Kongress in Washington ein Einreiseverbot für 60 russische Beamte, denen Verantwortung für diesen Skandal zugeschrieben wird. Ausserdem wurden sämtliche Konten der von dieser Massnahme Betroffenen in Amerika gesperrt.
In 20 Jahren 60 000 Adoptionen durch US-Bürger
Weshalb man in Putins Dunstkreis auf die Idee kam, diese amerikanische Sanktion ausgerechnet mit einem Verbot für US-Bürger zu kontern, russische Waisenkinder zu adoptieren, scheint sich zunächst einer halbwegs rationalen Erklärung zu entziehen. Diese Gegenaktion ist denn auch von aufgeklärten Stimmen in der russischen Öffentlichkeit deutlich kritisiert worden. So erklärte der angesehene frühere Finanzminister Alexei Kudrin, dieser Schritt schade nicht den USA und weniger amerikanischen Adoptiveltern, sondern in erster Linie russischen Kindern, die Hilfe benötigten. Dass die Zahl von Waisenkindern und Kindern aus völlig zerrütteten Familien in Russland sehr hoch ist und die Betreuung dieser Kinder in unzähligen Fällen absolut ungenügend, ist zumindest seit dem Ende des Sowjetsystems ein offenes Geheimnis.
In den letzten 20 Jahren sind rund 60'000 russische Waisen von amerikanischen Familien adoptiert worden. Das ist ein Drittel aller Adoptionen durch Ausländer; besonders viele unter den von US-Bürgern adoptierten Waisen betreffen behinderte Kinder. Unter diesen Zehntausenden von Adoptionen nach Amerika ist eine Reihe von Fällen bekannt geworden, die tragisch ausgegangen sind. Nach Angaben des „Economist“ wurden in den USA insgesamt 19 Todesfälle unter russischen Adoptionskindern registriert – einige davon wegen grober Misshandlung oder Vernachlässigung. In Russland sollen im gleichen Zeitraum der letzten 20 Jahren 1'500 adoptierte Kinder gestorben sein.
Propagandistische Ausschlachtung
Diese empörenden – aber vergleichsweise wenigen – Fälle von tragischen Geschichten russischer Waisenkinder in den USA sind von der russischen Regierungspropaganda im Zusammenhang mit dem antiamerikanischen Adoptionsgesetz in der Öffentlichkeit gezielt ausgeschlachtet, verallgemeinert und zu einer generellen amerikafeindlichen Stimmungsmache missbraucht worden.
Der Zyniker Putin und die von ihm gegängelten Verantwortlichen im staatlich kontrollierten Fernsehen wissen die in Russland breit verwurzelten Instinkte xenophoben Misstrauens und chauvinistischer Ressentiments wirkungsvoll zu schüren, wenn das ihrem Kalkül dient. So war im Zusammenhang mit der Kampagne zum Anti-Adoptionsgesetz gegen US-Bürger das einfältige Argument zu vernehmen, die in Amerika aufwachsenden russischen Waisen könnten ja eines Tages im Krieg gegen Russland eingesetzt werden.
Putins erodierende Popularität
Warum aber lässt sich Putin überhaupt auf solche durchsichtigen Manöver auf dem Buckel russischer Waisenkinder ein, die zumindest in den aufgeklärten Segmenten der russischen Bevölkerung leicht durchschaut werden? Vielleicht deshalb, weil der Kremlchef verunsichert ist über die Erosion seiner Popularität und Autorität, worauf mancherlei Indizien hinweisen. Laut einer Umfrage des Moskauer Levada-Zentrums soll der Anteil derjenigen Russen, die dem Präsidenten vertrauen, allein zwischen März und November des vergangenen Jahres von 44 Prozent auf 34 Prozent gesunken sein. Ein noch beunruhigenderes Zeichen für das Putin-Regime ist die stark zunehmende Kapitalflucht aus Russland, sie wird für 2012 auf 75 Milliarden Dollar geschätzt – das ist doppelt so viel wie zwei Jahre zuvor.
Angesichts solcher Tendenzen könnte es der Kremlchef für ratsam halten, gerade jene einfachen Volksschichten durch populistisch-chauvinistische Inszenierungen wie das Antiadoptionsgesetz gegen US-Bürger bei Laune zu halten, die in ihm immer noch den richtigen Mann sehen, um das Land mit starker Hand zusammenzuhalten und Russland in der Welt den nötigen Respekt zu verschaffen.
Gespaltene Nation
Auf der andern Seite sind jene massenhaften Protestdemonstrationen vorläufig wieder verebbt, die vor einem Jahr in Moskau und St. Petersburg ausgebrochen waren und den selbstherrlichen Ämtertausch zwischen Medwedew und Putin für kurze Zeit in Frage zu stellen schienen. Der weltgewandte russische Schriftsteller Viktor Jerofejew verkündete damals begeistert, die Grosskundgebungen vom Dezember 2011 gegen den autoritären Stil des Putin-Regimes bedeuteten die „Geburt der russischen Zivilgesellschaft“. Doch trotz aller Ernüchterung über solche Prognosen – untergründig schwelt die Unzufriedenheit mit dem Status quo spürbar weiter. Neue Protestwellen sind durchaus möglich.
Jerofejews Kollege Michail Schischkin, der hauptsächlich in der Schweiz lebt, beurteilte die grossstädtischen Proteste gegen das System Putin sehr viel skeptischer. Auf dem russischen Territorium, schrieb er zu den gleichen Ereignissen, lebten „zwei in Geist und Kultur völlig verschiedene Nationen, die zwar beide russisch sind und dieselbe Sprache sprechen. Der eine Teil der Bevölkerung lebt in der Provinz – er zählt über hundert Millionen, ist bettelarm, ungebildet, alkoholabhängig und in der mentalen Entwicklung im Mittelalter stecken geblieben“. Der andere Teil konzentriere sich auf die beiden grossen Metropolen – er sei gebildet, wohlhabend, habe die Welt bereist und besitze europäische Wertvorstellungen über Demokratie und Gesellschaft.
Im Zweifelsfall nach altem Rezept
Diese innere Spaltung Russlands mag so allzu schematisch formuliert sein. Aber als Grundmuster genommen lässt sich damit manche scheinbar widersinnige Entscheidung der russischen Politik und deren Motive besser erhellen. Putin selbst ist in diese mentale Polarität eingespannt. Er strebt einerseits danach, Russland zu einem modernen, effizienten und attraktiven Staat zu entwickeln. Andererseits ist er offenkundig tief von misstrauischen Verhaltensmustern seiner KGB-Vergangenheit und rückwärtsgewandten slawophilen Mythologien geprägt.
Im Zweifelsfall reagiert er auf politische Herausforderungen mit repressiven Methoden und der Aktivierung gekränkt-chauvinistischer Reflexe in der russischen Volksseele. In der Doppel-Causa, die den Magnitski-Skandal mit einem abstrus-zynischen Adoptionsverbot auf dem Buckel russischer Waisenkinder verknüpft, hat Putin einmal mehr nach diesem Rezept agiert.