Was immer sonst für Motive vorgeschoben werden, es ist der archaische Glaube an das «Recht des Stärkeren», der Putin im Innersten zu seinem Überfall auf die Ukraine antreibt. Diesem «Recht» steht die Hoffnung auf eine von Vernunft und verlässlichen Regeln geleitetes Zusammenleben der Völker entgegen.
Der Philosoph Georg Kohler setzt sich in seinem Buch «Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft» mit diesem Spannungsfeld auseinander, indem er Autoritäten von Thukydides und Hobbes über Kant bis Freud und Rorty zu Rate zieht. Er hält an der Hoffnung fest, dass eine Niederlage Putins zu «Lernschritten» für eine vernünftigere Welt führen könnte.
Der Autor bündelt seine Überlegungen zum angeblichen «Recht des Stärkeren» zunächst am berühmten Beispiel des «Melier-Dialogs», über den der antike Historiker Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges berichtet. Die Bewohner der Insel Melos waren entschlossen, im jahrelangen Krieg zwischen Athen und Sparta neutral zu bleiben.
Die Athener wollten dies nicht akzeptieren. Ihre Abgesandten erklärten unumwunden, «dass ihr so gut wisst wie wir, dass im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt». Weil die Melier sich weigerten, sich diesem Machtanspruch zu beugen, wurde die Insel von den Athenern mit aller Härte belagert bis die Bewohner sich ergaben. Dennoch töteten die Eroberer alle Männer der Insel und verkauften Frauen und Kinder in die Sklaverei.
Hitlers Geheimrede 1933
Aus der sehr viel näher liegenden Geschichte zitiert Kohler ein weiteres Beispiel imperialen Machtanspruchs, der sich allein auf das «Recht des Stärkeren» beruft. Es ist eine Geheimrede Hitlers an die obersten Führer der Reichswehr, gehalten wenige Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Demokratie und Pazifismus seien weltfremde Einstellungen, erklärte Hitler. «Darum ist es unsere Aufgabe, die politische Macht zu erobern und jede zersetzende Meinung auf Schärfste zu unterdrücken». In sechs bis acht Jahren werde das Heer fähig sein, «eine aktive Aussenpolitik zu führen, und das Ziel der Ausweitung des deutschen Lebensraumes wird dann mit bewaffneter Hand erreicht werden».
Putin hat sich, wie man inzwischen klarer erkennt, schon Jahre vor dem Überfall auf die Ukraine in ähnlichem Duktus über das Nachbarland geäussert, das er zum historischen Bestandteil Russlands erklärte. Das Recht auf politische Unabhängigkeit der Ukraine und eine eigene Identität lehnte er damit implizit ab – obwohl Moskau nach der Auflösung des Sowjetimperiums diese Unabhängigkeit in mehreren Verträgen anerkannt hatte. Sind mit dem Angriff der russischen Armee vom 24. Februar 2022 und der viel zitierten «Zeitenwende» auch die Hoffnungen auf eine gewaltfreie Zukunft zerschellt, die nach dem Ende des sowjetischen Machtblocks zumindest in Europa weitherum aufgeblüht waren?
Georg Kohler meint, man hätte spätestens mit Beginn von Putins dritter Amtszeit im Jahre 2012, als eine breite Protestwelle in russischen Grossstädten rücksichtslos niedergeschlagen wurde, erkennen müssen, dass der Kremlchef nicht bereit war, sich an demokratische und rechtsstaatliche Regeln zu halten. Wer diese Hinwendung zur Diktatur nicht wahrhaben wollte (unter ihnen viele «Putin-Versteher»), müsse sich tatsächlich Naivität vorwerfen lassen.
Kant und die «Bösartigkeit der menschlichen Natur»
Allerdings räumt Kohler in seinem Essay selber ein, dass so gut wie niemand den Überfall auf die Ukraine vorausgesehen hat. Fahrlässig aber war im Rückblick eindeutig die Entscheidung der Regierung Merkel, das Grossprojekt der Nordstream-2-Pipeline entgegen allen Warnungen und gegen die klaren Interessen der Ukraine durchzusetzen. Dieses Urteil gilt auch, obwohl Putin durch seinen Angriffskrieg dieses milliardenschwere Unternehmen nun selber torpediert hat.
Im Mittelpunkt von Kohlers Überlegungen steht aber die Frage, was von Kants Vision vom «ewigen Frieden» und damit von der Hoffnung auf eine sich ausbreitende demokratische und rechtsstaatliche Evolution oder wenigstens auf ein friedfertiges «europäisches Haus» (wie es Putins Vorgänger Gorbatschow formuliert hatte) zu halten ist. Er argumentiert, dass auch der grosse Aufklärer Kant die «Bösartigkeit der menschlichen Natur» keineswegs ignoriert oder bestritten habe.
Aber Kant hielt die mit dieser Aggressivität verbundenen Gefahren für eingrenzbar. Dafür aber ist glaubhafte militärische Abschreckungsmacht und der Abschied von rein pazifistischen Idealen notwendig. «Wer von Anfang an gerüstet und entschlossen der Hybris begegnet, die im Namen des Rechts des Stärkeren auftritt», könne darauf rechnen, dem Schicksal der Inselbewohner von Melos, wie Thukydides es schildert, zu entgehen, schreibt der Autor. Bei der Gefahr eines «grossen Krieges» (gemeint ist der Einsatz von Atomwaffen) hat dieses Abschreckungsprinzip jedenfalls seit Jahrzehnten funktioniert. Dafür steht die Formel von der Mutual Assured Destruction und ihr etwas zwiespältiges Kürzel MAD.
Eine «nachhaltige Lernkatastrophe»?
Der Begriff der «Zeitenwende» soll zum Ausdruck bringen, dass der Westen entschlossen ist, Putins konventionellen Gewaltangriff auf die Ukraine durch umfassende Waffenhilfe an das überfallene Opfer zum Scheitern zu bringen. Wenn das gelingt, so ist zu hoffen, werde dieses Scheitern zu einer «nachhaltigen Lernkatastrophe» für den Aggressor und für potentiell mögliche Nachahmer werden. In diesem Sinne eines allgemeinen Lernprozesses, schreibt Kohler, hätten auch Kant und Freud ihre Hoffnungen auf eine zunehmend friedlichere Zukunft für die Menschheit begründet.
Sind solche Hoffnungen auch in Bezug auf den Ukraine-Krieg, der seit mehr als einem Jahr andauert, immer noch gerechtfertigt? Zwar weiss zurzeit niemand, wie lange dieser Krieg noch dauern wird. Dennoch ist Georg Kohler der Ansicht, dass Putins «Spezialoperation» im Kern schon gescheitert ist – jedenfalls gemessen an ihren ursprünglichen Zielen einer schnellen Eroberung Kiews und einer Kontrolle über das ganze Nachbarland. Zudem habe der russische Machthaber den Willen des Westens zur wirksamen Unterstützung der angegriffenen Ukraine weit unterschätzt.
Dass Putin mit seiner Hybris und dem willkürlichen Anspruch auf das «Recht» des Stärkeren Schiffbruch erleiden wird, ist gewiss höchst wünschenswert. Doch vorläufig bleibt eine derart optimistische Prognose immer noch gewagt. Putins Risiko, in seinem blinden Vertrauen auf das «Recht des Stärkeren» widerlegt zu werden, liegt aber wohl um einiges höher. Dafür sprechen auch die vom Autor zitierten paradigmatischen Beispiele: Athens willkürliche Eroberung der Insel Melos im peloponnesischen Krieg und Hitlers Feldzug zur «Ausweitung des deutschen Lebensraums». Beide Kriegszüge im Namen des «Rechts des Stärkeren» sind am Ende krachend gescheitert.
Der anregende, dicht geschriebene Essay über Putins Krieg in der Ukraine nimmt nur rund 40 Seiten in Kohlers Buch ein. Die restlichen Texte sind alle vor dieser dramatischen Zeitenwende entstanden. Sie kreisen um den weiten Themenkreis von politischer Rationalität und menschlichem Machttrieb. Weil diese Texte aber nicht mit einem unmittelbaren politischen Geschehen verknüpft sind, bieten sie zumindest dem philosophisch nicht spezialisierten Leser eine ziemlich abstrakte Lektüre.
George Kohler: Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2023, 287 Seiten.