Michail Schischkin zählt zu den bekanntesten Namen der russischen Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2000 erhielt er den russischen Bookerpreis für seinen vielschichtigen Roman «Die Eroberung von Ismail», der erst 2017 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Seit 1995 lebt Schischkin in der Schweiz und er äussert sich zunehmend kritisch über die Entwicklungen in seiner Heimat unter dem Putin-Regime.
Diese Woche hat er in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» energisch gefordert, die Schweiz und alle andern demokratischen Länder sollten die Fussball-WM in Russland boykottieren. Eine Teilnahme dieser Nationalteams werde von der russischen Propaganda als «Zeichen der Solidarität» mit dem autoritären Putin-Regime dargestellt. Das seien die falschen Signale. Es sei wichtiger, durch einen Boykott «Solidarität mit den Geiseln dieser Diktatur zu zeigen».
Doch bei allem Respekt für Schischkin und allem Verständnis für seine Enttäuschung über die Vorgänge der letzten Jahre in seinem Vaterland vermag seine Argumentation als realpolitische Handlungsanweisung doch nicht zu überzeugen. Zum einen hätte eine Absage zur WM-Teilnahme viel früher ins Auge gefasst werden müssen, nämlich unmittelbar nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Einsatz russischer Militärkräfte im ukrainischen Donbass im Frühjahr 2014. Zum andern würde ein Boykott der Fussball-WM nur kurz vor deren Eröffnung mit hoher Wahrscheinlichkeit in erster Linie dem Putin-Regime in die Hände spielen – und zwar innen- wie aussenpolitisch.
Innenpolitisch hätten die Kreml-Propagandisten und die weitgehend nach deren Pfeife tanzenden Medien ein leichtes Spiel, eine kurzfristige Absage zur WM-Teilnahme dem Publikum als neuen Beweis für die bösartige Verschwörung und Verachtung des Westens gegenüber Mütterchen Russland zu servieren. Auf dieser Schiene läuft die russische Staatspropaganda mindestens seit dem Klimasturz um die Ukraine-Krise von 2014 auf Hochtouren. Anzunehmen ist ferner, dass diese Lesart auch bei der Gemeinde der Putin-Verharmloser im Westen, die den Kremlchef primär als Opfer finsterer antirussischer Verleumdungsfeldzüge verstehen, auf breites Gehör stossen würde.
Aber auch jenseits solcher politischen Kalkulationen muss man eine kurzfristige Absage an die WM-Teilnahme in Russland für fragwürdig halten. Wenn zehntausende von ausländischen Zuschauern nach Russland reisen und sich dort etwas näher umsehen, ist es gut möglich, dass manche unter den Gästen und den Gastgebern gegenseitig zu der Einsicht gelangen, dass gerade auf der zwischenmenschlichen Ebene die persönlichen Erfahrungen um einiges erfreulicher und differenzierter ausfallen, als dies die von vielen Medien verbreiteten Cliché-Bilder suggerieren. Es liegt in erster Linie an den aus dem Ausland anreisenden Politikern und andern Prominenten, sich nicht als mediale Claqueure des Putin-Regimes instrumentalisieren zu lassen. Wer wissen will, wie man das verhindert, sollte sich von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel beraten lassen.
Keineswegs aber sollte die Teilnahme am Fest der Fussball-WM signalisieren, dass die westlichen Länder bereit sind, die nach der Krim-Annexion und der militärischen Einmischung in der Ostukraine verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland ohne Gegenleistung zu lockern oder gar aufzuheben. Solche Schritte sollten ungeachtet gegenteiliger Forderungen von bestimmten Interessengruppen erst in Betracht gezogen werden, wenn neben der Ukraine auch Moskau die im Minsker Protokoll vom September 2014 eingegangenen Verpflichtungen zu einem dauerhaften Waffenstillstand überprüfbar umsetzt. Denn es besteht kein Zweifel, dass der weiterhin schwelende blutige Krieg im Donbass schnell zu Ende ginge, sobald Putin sich entschliesst, den separatistischen Klüngeln im Donbass seine militärische und politische Unterstützung zu entziehen.