Gerade wegen dieses Kalküls müssen ihm die möglichen Kosten eines verlängerten Einsatzes verdeutlicht werden. Die Chance besteht, dass ihn das nicht unbeeindruckt lässt.
Kein russisches Roulette
Denn Putin spielt bei der alle Welt verblüffenden Annexion der Krim und der anhaltenden militärisch-politisch-propagandistischen Einmischung in der Ostukraine kein russisches Roulette. Hätte er sich je auf ein derart waghalsig-unberechenbares Abenteuer eingelassen, wäre er nicht schon seit 14 Jahren oberster Machthaber in Moskau (mit und ohne Präsidententitel) – und mit der reellen Aussicht, diese Position noch weitere zehn Jahre verfassungskonform zu besetzen.
Putin handelt in der Ukraine-Krise nach bisherigen Indizien auch nicht wie ein langfristig und systematisch kalkulierender Schachspieler, sondern eher wie ein gewiefter Pokerspieler. Dieser ist zwar zu hohen Einsätzen bereit, lässt aber die damit verbundenen Risiken nicht aus den Augen und verfügt über die nötige Selbstbeherrschung, sich mit einem begrenzten Gewinn zu begnügen, anstatt sein Blatt noch weiter auszureizen.
„Hybride Kriegsführung“
Im Nato-Jargon hat man für das, was Putin in der Ostukraine nun schon monatelang betreibt, den Begriff „hybride Kriegsführung“ kreiert. Das heisst, der Kreml zieht alle möglichen Register um die separatistische Bewegung in dieser Region am Köcheln zu halten, diese waffenmässig, personell, finanziell und propagandistisch zu unterstützen, unter Umständen auch mit Einsatz eines Hilfskonvois von 280 schneeweiss umgespritzten Lastwagen - aber ohne direkte militärische Aggression von russischem Territorium aus. Damit soll die Destabilisierung der ohnehin schon mit zahlreichen inneren Problemen kämpfenden Ukraine vertieft und perpetuiert werden.
Diese Art der Kriegsführung bringt es mit sich, dass der schon vom preussischen Strategen Clausewitz diagnostizierte „Nebel des Krieges“ - Ungewissheit, Unübersichtlichkeit, Unberechenbarkeit – sich besonders dick ausbreitet. Wer das mit berücksichtigt, müsste sich etwas weniger wundern, weshalb auch die Medienberichte über das, was sich in der Ostukraine abspielt, oft so widersprüchlich, unvollständig, wechselhaft und unzuverlässig bleiben. Das ist bei andern Kriegsschauplätzen, bei denen die Fronten in ständiger Bewegung sind und von allen Seiten kräftig mit Propaganda operiert wird, grundsätzlich nicht anders. Diese Unsicherheit und Unvollständigkeit der Berichterstattung gilt selbst bei Medien, die tatsächlich während längerer Zeit eigene Korrespondenten im Kriegsgebiet haben – wie etwa der „Spiegel“ oder die „New York Times“.
Erfolgreicher Krim-Anschluss
Die Einschätzung, dass Putin und die von ihm dominierte Kremlführung im Ukraine-Konflikt nicht nach einem grossen strategischen Plan handelt, sondern überwiegend nach taktischen Gesichtspunkten, teilt auch Jens Siegert, der Leiter der Heinrich Böll-Stiftung in Moskau, der seit vielen Jahren in der russischen Hauptstadt lebt und die dortigen Entwicklungen scharf beobachtet. „Jede Herausforderung wird angegangen, wenn sie da ist“, schreibt Siegert in seinem Blog. Mit der schnellen Annexion der Krim reagierte Putin auf den unerwarteten Sturz und die Flucht des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, den er zuvor in letzter Minute davon abgehalten hatte, ein fertig vorliegendes Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben.
Die Besetzung und Annexion der Krim verlief aus der Sicht des Kreml sehr erfolgreich. Was übrigens die Vermutung nahelegt, dass entsprechende Eventualpläne schon länger in den Moskauer Schubladen lagen, aber ohne feste Vorstellungen, ob und wann diese je in die Tat umzusetzen wären. Dieser Erfolg und die nationalistische Begeisterungswelle, die diese Anschluss-Operation in der russischen Bevölkerung auslöste, hätten Putin und seine Kamarilla dazu verführt, ihre expansiven Manöver in der Ostukraine fortzusetzen, meint Siegert. Ob Putin ernsthaft im Sinne hatte und immer noch daran denkt, Teile der Ostukraine nach dem Muster der Krim in aller Form zu annektieren – diese Frage lässt sich vorläufig und möglicherweise nie eindeutig beantworten. Es sei denn, es würden in Zukunft entsprechende Faits accomplis geschaffen.
Wo sind die Verbündeten?
Einiges spricht dafür, dass Putin wohl die Erwartungen überschätzt hat, die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine werde die Umtriebe separatistischer Kräfte und deren materiell-personelle Unterstützung aus dem „Mutterland“ in ebenso überwältigender Zahl begrüssen, wie auf der Krim. Die meisten Informationen über die Stimmung der Bevölkerung deuten darauf hin, dass die Mehrheit der Ostukrainer zwar unzufrieden mit der Regierung in Kiew bleibt, aber keineswegs erpicht darauf ist, wieder unter die Fittiche des Kreml und seiner zentralistischen Machtvertikale zu geraten.
Putin hatte bei seiner „hybriden“ Einmischung in der Ostukraine bestimmt auch nicht damit gerechnet, dass im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen ein Passagierflugzug eines völlig unbeteiligten Landes mit 300 Zivilisten an Bord abgeschossen werden könnte. Der weit verbreitete Verdacht, dass dieses tragische Unglück von rücksichtslosen pro-russischen Rebellen mit von Russland gelieferten Flugabwehr-Raketen zu verantworten ist, ist zwar immer noch nicht definitiv bewiesen, verstärkt aber das Unverständnis und das Misstrauen gegenüber den expansionistischen Tendenzen der Moskauer Politik. Ein Kommentator in der sonst eher gouvernemental ausgerichteten Internetzeitung „gazeta.ru“ stellte denn auch dieser Tage die kritische Frage, ob Russland eigentlich noch auf eigene Verbündete in der Welt zählen könne – abgesehen von Simbabwe, Kuba, Weissrussland und Armenien.
Die Ansprüche der Ultranationalisten
Peinlich und schädlich für Putins politische Absicherung seines „hybriden“ Engagements sind ebenso jüngste auftrumpfende Video-Äusserungen wie diejenigen von Alexander Sachartschenko, des neuen „Ministerpräsidenten“ der „Donezker Volksrepublik“ (sein Vorgänger Borodai mit russischem Pass hat sich vorsichtigerweise zurückgezogen), aus Russland würden „bis zu 150 Stück Militärtechnik, davon bis zu 30 Panzer“ geliefert. Ausserdem seien 1200 Mann Verstärkung versprochen worden, „die in den letzten Monaten auf dem Territorium Russlands ausgebildet wurden“. In Moskau mussten das dann am vergangenen Wochenende mühsam – aber nicht besonders glaubhaft – dementiert werden.
Nicht wenig dürfte Putin bei seinem Poker-Kalkül die Frage zu schaffen machen, wie er die Erwartungen der Ultranationalisten im eigenen Land im Zaum halten soll, die mehr oder weniger unverblümt nach einem direkten militärischen Einmarsch in die Ostukraine rufen, um kurzentschlossen deren Annexion in die Tat umzusetzen. Der Kremlchef hat mit seinem erfolgreichen – aber eindeutig völkerrechtswidrigen – Coup auf der Krim solche Schwärmereien selber kräftig geschürt.
Er muss, wenn er bei seiner Rechnung zum Schluss kommt, dass die mit einem solchen Vorgehen verbundenen Risiken zu hoch sind, gewärtigen, dass ihm von chauvinistischen Hitzköpfen Verrat an den „Landsleuten“ in der Ostukraine vorgeworfen wird. Solche Herausforderungen kann Putin zwar unter Kontrolle bringen, aber er wird sie nicht einfach ignorieren können. Autoritäre Machthaber, die auf der nationalistischen Klaviatur spielen, sind besonders dringlich darauf angewiesen, ihre Popularität beim Volk durch immer neue Erfolge abzusichern.
Eurasische Union ade?
Gerade diese letztere Aufgabe könnte für Putin in näherer Zukunft immer schwieriger zu lösen sein. Er hat zwar die Halbinsel Krim „heim ins Reich“ gebracht, doch gleichzeitig den ukrainischen Staat (mit oder ohne Ostukraine) mit über 40 Millionen Einwohnern wohl für sehr lange Zeit von Russland weggestossen. Damit ist auch Putins Projekt einer eurasischen Union , das er als ein Gegenstück zur EU aufbauen wollte, kaum lebensfähig. Ohne die Ukraine fehlt es diesem Gebilde noch mehr als bisher an innerer Kohärenz und Anziehungskraft - bisherige Mitglieder sind neben Russland Kasachstan, Weissrussland und Armenien.
Kommt hinzu, dass die vom Westen verhängten Sanktionen die lahmende russische Wirtschaftsentwicklung und die seit den Sowjetzeiten stark verbesserte Konsumgüterversorgung sehr empfindlich treffen dürften, falls sie über einen längeren Zeitraum hinweg andauern. Auch dies kann Putin nicht gleichgültig sein. Seine Popularität ist zwar in Russland gegenwärtig sehr breit ausgelegt, aber kaum besonders tief verankert. Die Grossdemonstrationen gegen ihn in Moskau und St. Petersburg vor zwei Jahren beim manipulativen Ämtertausch mit seinem Domestiken Medwedew hat er in seinem Elefantengedächtnis bestimmt sorgfältig gespeichert.
Gegendruck und Gesprächsbereitschaft
Wie soll man im Westen vor diesem komplexen Hintergrund auf die anhaltenden Herausforderungen des Ukraine-Konflikts agieren? Das Prinzip sollte lauten: Spürbarer Gegendruck und Gesprächsbereitschaft. Die Sanktionen und die Androhung einer Verschärfung sind richtig, solange Moskau nicht bereit ist, seine hybride Intervention in der Ostukraine erkennbar und überprüfbar zu beenden.
Wer die wirtschaftlichen Sanktionen und die Proteste in den westlichen Medien gegen die russische Einmischung in einem als souverän anerkannten Nachbarland als „Kriegstreiberei“ anprangert, muss sich fragen lassen, wie der Westen denn sonst einigermassen glaubwürdig auf Putins Anmassung reagieren soll. Schulterzucken, Teetrinken und business as usual? Das wäre nicht nur eine Demonstration völkerrechtlicher Gleichgültigkeit, sondern auch ein Respektverlust gegenüber der schwachen Ukraine, den aus naheliegenden Gründen besorgten Balten und Polen und selbst gegenüber jener russischen Minderheit, die mit Putins imperialem Expansionsdrang und neonationalistischem Getöse nicht einverstanden ist. Gerade weil Putin eher nach dem Muster eines risikoabwägenden Pokerspielers handelt und nicht im Stil eines blindwütigen Amokläufers, liegt es im allseitigen Interesse, ihm die Konsequenzen eines verlängerten Eingriffs in der Ostukraine oder gar einer weiteren Annexion à la Krim klar vor Augen zu führen.
Merkel macht es vor
Die Merkel-Regierung in Berlin macht es vor, wie man mit Putins Russland in der gegenwärtigen Beziehungskrise umgehen soll. Berlin hat bei der Umsetzung der zunächst nur angedrohten EU-Sanktionen eine entscheidende Rolle gespielt. Gleichzeitig telefoniert die Kanzlerin regelmässig mit dem Kremlchef, und man darf annehmen, dass sie in Sachen Ukraine-Einmischung Klartext redet, ohne den richtigen Ton zu verfehlen – nicht umsonst spricht sie auch Russisch. Ihr Aussenminister Steinmeier lädt den russischen Aussenminister zusammen mit den ukrainischen und französischen Amtskollegen zum offenen Meinungsaustausch nach Berlin ein, bei dem mit Sicherheit auch Kompromissszenarien für eine Entschärfung des Ukraine-Konflikts diskutiert worden sind.
Solche Szenarien müssen unbedingt auch Elemente enthalten, die es allen beteiligten Parteien ermöglicht, insbesondere vor dem eigenen Publikum das Gesicht zu wahren und nicht irgendwie in die Verliererecke abgedrängt zu werden. Die Kiewer Regierung etwa könnte sich verpflichten, den östlichen Provinzen erweiterte Autonomierechte einzuräumen. Langfristig könnte sie für diese Gebiete sogar eine Unabhängigkeitsabstimmung in Betracht ziehen, sofern diese ähnlich korrekt und kompetent durchgeführt würde wie etwa das bevorstehende Referendum in Schottland. Gleichzeitig würde der Ukraine das Recht zugestanden, sich näher an die EU anzubinden, müsste aber in absehbarer Frist jegliche Annäherung an die Nato ausschliessen.
Erinnerung an die DDR-Lösung
Russland wiederum würde sich auf die volle Respektierung der ukrainischen Souveränität und seiner Grenzen verpflichten. Die EU würde (eventuell in Absprache mit den USA) zusammen mit Moskau einen diplomatischen Modus vivendi ausarbeiten, um den jetzigen Status quo der Krim zu respektieren, ohne aber die Möglichkeit einer späteren völkerrechtlichen Veränderung auszuschliessen. Akzeptable Formeln für solche kniffligen Probleme hatten die Grossmächte ja seinerzeit auch für die de facto-Anerkennung der DDR-Existenz gefunden – was, wie man aus der Geschichte weiss, viele Jahre später einer bessere und befriedigendere Lösung nur förderlich war.
Haben solche Entspannungsvisionen und Lösungsvorstellungen eine Chance? Unmöglich ist das nicht, wenn zumindest die gewichtigsten unter den im Ukraine-Konflikt involvierten Parteien kühle Risikoabwägung mit politischem Weitblick, diplomatischem Fingerspitzengefühl und der Einsicht in frühere eigene Fehler verbinden würden. Das mögen hochfliegende Hoffnungen sein – irreal sind sie nicht, wenn man davon ausgeht, dass erfahrene Pokerspieler in der Regel die Risiken ihres Handels mit im Auge behalten. Wie wiederum die Geschichte lehrt, behalten die Pessimisten und notorischen Kassandras durchaus nicht immer das letzte Wort.