Er ist ja schon ein rechter Tausendsassa, der Peter Konrad Wehrli, besser bekannt unter dem Kürzel «PKW». Faszinierend, wie er seit nunmehr rund 50 Jahren die Welt katalogisiert, und damit irgendwie auch analysiert.
Vor ziemlich genau zwei Jahren hatten wir uns getroffen, weil die noble Berkeley University den «Katalog von allem» auf Englisch herausgegeben hatte. Jetzt sitzen wir am gleich Ort wie damals zusammen, im Saal des Dada-Hauses in der Zürcher Altstadt.
Der Katalog auf Portugiesisch – in Moçambique
Es ist Nachmittag, alles leer, nur wir zwei am kargen Holztisch. Die plimplam-Allerweltsmusik haben wir abstellen lassen, ausser uns würde sie sowieso niemand hören, denn wir sind allein. Dritter im Bunde ist gewissermassen der «Catálogo de Tudo». Oder besser gesagt: der kleine Bruder des «Catálogo». Und noch besser, beziehungsweise genauer gesagt, ist es ein Supplément, ein kleiner zusätzlicher Band. Auch wenn man der Sprache, in der das Büchlein vorliegt, nicht mächtig ist, versteht man schnell, um was es geht: Dada. Also logisch, dass wir im Dada-Haus sitzen … Nun muss man wissen, dass dieses Werk zwar auf Portugiesisch vorliegt, aber ein Afrikaner ist und aus Moçambique stammt. Vorne steht drauf: «O quadrado e os cinco temas». Und dies wiederum heisst: «Das Quadrat und seine fünf Themen», was sich auf das Format des Büchleins bezieht, das schön quadratisch vor uns liegt. Auf Portugiesisch.
«Ach, das ist meine Lieblingssprache», schwärmt PKW. «Reine Musik! Also vor allem das Portugiesisch, das in Brasilien gesprochen wird, das ist so vollmundig vokal …». Und dann zitiert er, oder besser gesagt: singt er fast die Vokale, a, ä, aei … und genau dieses vokal vollmundige Portugiesisch wird auch in Moçambique gesprochen.
Kein Wunder also, dass PKW mit grosser Begeisterungreagierte, als er vor einiger Zeit ein Inserat in der Zeitung fand, das auf ein Gastspiel der moçambiquanischen Theatergruppe «Mutumbelo Gogo» im Zürcher Theater Rigiblick hinwies. «Mutumbelo Gogo» spielte das Drama einer Gruppe von Rückkehrern aus der DDR, die – dank «sozialistischer Bruderhilfe» – vollgestopft von deutscher Literatur „Schillers Räuber“ in Maputo aufführen wollen. Und dieses Drama hatte der moçambiquanische Autor Mia Couto für «Mutumbela Gogo» geschrieben. Das war ganz nach PKWs Geschmack!
Vollgestopft mit deutscher Literatur
Es mag exotisch oder fast schon dadaistisch scheinen, dass die Truppe aus Moçambique sich mit Friedrich Schiller beschäftigt. Es hat aber durchaus eine tiefere Bedeutung. Moçambique war früher eine sozialistische Volksrepublik und folglich der ehemaligen DDR freundschaftlich verbunden und viele Moçambiquaner wurden in der DDR ausgebildet und «mit deutscher Literatur vollgestopft», wie PKW betont.
«Ich selbst hatte vor mehr als zehn Jahren im deutschen Kulturinstitut in Maputo auch eine Lesung», erzählt er, «und in den Strassen wurde das auf den Plakaten auf Deutsch angekündigt. Da dachte ich, es kommt eh’ niemand. Aber der Saal war voll, alles Afrikaner und alle konnten Deutsch. Es waren Heimkehrer aus der DDR.» Und einige dieser Heimkehrer wollten das, was sie an deutscher Sprache und Kultur gelernt hatten, auch weiterhin pflegen und gründeten eine Theatertruppe.
Der moçambiquanische Autor Mia Couto hat der Truppe ein Stück geschrieben, eine Umsetzung der Erlebnisse in der DDR. Eine Art Selbstreflexion zwischen DDR und Moçambique.
Dada-Seminar in Maputo
PKW war begeistert und beim anschliessenden Umtrunk mit der Truppe im Theater Rigiblick kam man schnell miteinander ins Gespräch. Klar, dass auch der «Catálogo Brasilieiro» ein Thema war. Die Folge: eine Einladung nach Maputo, wo PKW unter anderem an der Kunsthochschule einen Kurs über Dada abhielt. «Ich, der ich die leibhaftigen Dadaisten damals in Zürich noch persönlich kannte, habe dann ein Lautgedicht von Hugo Ball zitiert. Da haben mich alle im Saal angestarrt und ich hatte keine Ahnung, was los war. Ich habe dann erfahren, dass Hugo Ball den Satz möglicherweise aus afrikanischer Lyrik abgeschrieben hat. Das hat mich sehr beschäftigt, dass es sich offenbar um einen afrikanischen Zauberspruch handeln musste ...»
Das Staunen war jedenfalls ganz auf PKWs Seite, während die afrikanischen Studenten weit weniger staunten und Dada gar nicht so absurd fanden, weil ihnen der Spruch vertraut war. «Es war eine kompakte Woche», sagt PKW im Nachhinein. Und es dauerte eine Weile, bis er seine Eindrücke, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle in diesem schmalen Band zusammenfasste.
«Die Dadaisten waren Pazifisten», sagt PKW und zitiert Hugo Ball: «Dada kämpft gegen die Überschätzung jener Vernunft, die Krieg und Zerstörung als logische Begleiterscheinung des menschlichen Lebens zu legitimieren versucht.» Allerdings, so PKW, hätten die Menschen in Moçambique durch den Kampf gegen die Portugiesen ein ganz anderes Verhältnis zu Krieg und Zerstörung als die Dadaisten.
Überall ist alles anders
«em todo lugar tudo é diferente» steht auf dem Titel des Büchleins. Auf Deutsch: «Überall ist alles anders». Ein Lieblingsausspruch PKWs. Vielleicht sein Leitmotto, das seine Neugierde an allem über die Jahre wachhielt und seine Aufmerksamkeit schärfte. Und noch etwas steht auf der Titelseite: «Tudo é uma reacção a Dada» also: «Alles ist eine Reaktion auf Dada». Und dies wiederum war die Antwort von Hans Arp auf einen Ausspruch von Dada-Mitbegründer Tristan Tzaras, der einst ausrief: „Alles ist Dada!“
Für PKW ist das Büchlein ein PS, eine Art Postscriptum zum Dada-Jubiläum.
Nebenher schreibt er weiter an seinem Lebenswerk, dem «Katalog von allem». Immer wieder kommen neue Katalogeintragungen hinzu. 2’028 sind es bis jetzt und man darf vermuten, dass PKW gar nicht durch die Welt gehen kann, ohne seine Beobachtungen sofort in knappen und träfen Worten zu katalogisieren. «Stimmt nicht», wehrt er sofort ab. «Ich kann sehr wohl unterwegs sein, ohne zu katalogisieren. Manchmal muss ich mir sogar einen Schupf geben. Ein Zwang ist das Katalogisieren nicht. Eher Wahrnehmungslust.»
Und hier noch die entsprechenden Einträge im «Katalog von allem»:
1951) die Ungeheuerlichkeit
Die Frage „Was ist Dada ?“, deren Beantwortung sich Tristan Tzara damals allzu leicht gemacht hatte, als er beiläufig erwiderte: „Alles ist Dada!“, und meine Erschütterung ob Hans Arps Antwort auf dieselbe Frage, die ich ihn am 22. November 1965 in Locarno Hans Richter geben hörte: „Alles ist eine Reaktion auf Dada!“ …
1951 a) … und diese Erschütterung, die gleichzeitig Erleichterung war, weil Arp damit dem Dadaismus die kühne Ungeheuerlichkeit zurückgegeben hat, die ihm triefnasige Kunsttheoretiker während Jahrzehnten ausgetrieben hatten, und die Wirkungen gefeiert hat, deren Ursache Dada war – und immer noch ist.
1485) der Dadaismus
Die Musikalität der Lautfolge, auf die ich die Studenten der ENAV in Maputo aufmerksam machte, als ich sie im Seminar über den Dadaismus Hugo Balls Lautgedicht „Die Karawane“ hören liess, die reine Sprachmusik, die keinerlei Bedeutung ergäbe …
1485 a)
… und meine elementare Verunsicherung darüber, dass ich die Studenten bei der Gedichtzeile „wulubu ssubudu uluw ssubudu“ derart beunruhigt und verstohlen heftig reagieren sah, als enthielte diese – mit „u“ als einzigem Vokal gebildete – Zeile eine geheime Botschaft, die nur Afrikaner zu entschlüsseln vermögen.