Als Marcel Proust am 18.November vor hundert Jahren starb, wurde viel über seine jüdischen Wurzeln diskutiert. Nun präsentiert der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid ein Buch über das Jüdische bei Proust und den französischen Antisemitismus jener Zeit.
Vor hundert Jahren, in den späten Nachmittagsstunden des 18. November 1922, verstarb Marcel Proust. Der von Kindheit an Asthmakranke war seit Monaten immer wieder bettlägerig, im Sommer war er 51 Jahre alt geworden, Ende Oktober hatte er sich eine Lungenentzündung zugezogen. Eben hatten sich an diesem Nachmittag zwei Professoren verabschiedet, die Haushälterin Celeste Albaret begleitete die Herren hinaus. Zurück im Zimmer setzte sie sich neben Prousts Bruder, den Arzt Robert Proust, und beschreibt später in ihren unvergleichlichen Erinnerungen, wie der Sterbende sie beide über lange Minuten unverwandt angesehen habe: «C’était atroce.» Bis Robert Proust ganz plötzlich aufstand – und dem Bruder die Lider schloss, «während seine Augen noch immer auf uns gerichtet waren».
Katholische und jüdische Herkunft
Marcel Proust war katholisch getauft wie sein Vater, sein monumentales Werk «A la Recherche du temps perdu» beginnt mit einer durch und durch katholischen Kindheit, er verehrte zeitlebens die Kathedralen. Seine Mutter Jeanne Weil entstammte jedoch einer assimilierten jüdischen Familie. Sie konvertierte nie, das Paar hatte nur standesamtlich geheiratet, und Proust liess seine geliebte Mutter nach jüdischem Ritus bestatten. In den ersten Nachrufen und Hommages der 1920er Jahre waren diese «jüdischen Ursprünge» des Autors ein viel debattiertes Thema. Es war mit Bezug auf die «Recherche» von «krypto-jüdischen» Spuren die Rede, von einem «Stil des Talmud», von einer Darstellung femininer Männer, die auf «rabbinische Literatur» zurückgehe. Gleichzeitig lehnte Prousts erster Biograph Leon Pierre-Quint, selbst jüdisch, schon damals jede Herleitung von Prousts «Geistesart» aus seiner jüdischen Herkunft ab. Das erhelle nichts, denn der «jüdische Geist habe höchst unterschiedliche Formen».
Bei dieser Meinung ist es weitgehend geblieben, «die Biografen haben Prousts jüdischer Seite wenig Aufmerksamkeit geschenkt», schreibt der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid. Diese Aufmerksamkeit will er mit seiner Studie «Der Elefant im Raum – Proust und das Jüdische» nun nachholen.
Andreas Isenschmid hat sich gerne als Proustianer geoutet und er hat diese merkwürdige Spezies einmal so beschrieben: Während andere Bücher lesen und hin und wieder auch ein Buch von Proust, liest der Proustianer (sowie natürlich auch die Proustianerin) Proust und hin und wieder auch ein anderes Buch. Denn für Proustianer stelle, zumindest laut dem Literaturkritiker Roland Barthes, Prousts monumentaler Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» nichts anderes dar als für Christen die Bibel: Trost in allen Lebenslagen.
Nun geht Isenschmid einen Schritt weiter, er wird vom Proustianer zum Proust-Forscher, vom blossen Bibelleser also zum Bibelexegeten. Und er stellt darin, wie es sich für einen rechten Theologen gehört, auch gleich eine ziemlich provozierende These auf: Zum einen, dass Proust sowohl politisch wie beim Schreiben «von starken jüdischen Gefühlen geleitet wurde, dass er sie aber meist nur indirekt zum Ausdruck brachte und zu ihnen eine durchgängig ambivalente Beziehung unterhielt». Zum zweiten, dass demzufolge die «Recherche» ein eminent jüdischer Roman sei, und zwar «von der ersten Zeile der Entwürfe bis zum letzten Zettelchen aus der Todesnacht».
Es geht bei diesem «Jüdischen» in und um Proust und seiner «Recherche» mithin um eine zugleich verborgene wie eigentlich doch offensichtliche Sache – nichts anderes meint ja das Bild vom Elefanten im Raum, den niemand sieht. Isenschmid spricht von einer «eigenartigen und fast klandestinen Präsenz des Jüdischen». Er unternimmt es, dieses «Verborgene» in allen seinen Facetten aufzuspüren, indem er biografische Fakten und Zeugnisse ebenso heranzieht wie Tagebücher, Notizblätter und Briefe und selbstverständlich das gesamte, viele tausend Seiten umfassende publizierte und nichtpublizierte Werk des obsessiven Schreibers Marcel Proust.
Der Sturm der Dreyfus-Affäre
Isenschmids Suche beginnt mit dem Sturm der Dreyfuss Affäre. Kein Ereignis habe Proust im Leben und Schreiben so geprägt, schreibt er, wie dieser Justizskandal um den jüdisch-französischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der 1894 der angeblichen Spionage angeklagt, verurteilt, degradiert und auf die Teufelsinsel deportiert worden war. Die Affäre wird von einem gewaltbereiten Massen-Antisemitismus begleitet und polarisiert die französische Kulturwelt in nie dagewesener Weise. Proust, damals Mitte zwanzig, zweifelt früh an der Schuld von Dreyfus und wird, wie viele seiner Freunde und Verwandten, von der antisemitischen Publizistik angegriffen. In seinem ersten, unvollendet gebliebenen und stark autobiografischen Roman «Jean Santeuil» (er wird erst postum entdeckt und publiziert werden) schildert sich Proust zwar als glühenden Dreyfusard, versteigt sich aber seitenlang in konfuse philosophische Erörterungen und erwähnt den grassierenden Antisemitismus mit keinem Wort. Schreiben über jüdische Themen falle Proust offenbar nicht leicht, konstatiert Isenschmid und stellt schon hier ein «sinnverwirrendes Textbeben» fest, das Prousts «Zerissenheit in jüdischen Dingen» offenbart.
Der zweite Teil der Studie gilt der jüdischen Familie von Prousts Mutter, die im Pariser Vorort Auteuil ein grosses Sommerhaus mit Garten besass. Hier kam Proust zur Welt, hier verbrachte er die Sommermonate, hier war der eigentliche Lebensmittelpunkt der weitverzweigten Familie Weil, in deren eleganter und geistreicher Gesellschaft Proust seine Kindheit und Jugend verbrachte. Denn Auteuil, nicht das katholische Illiers, ist, wie Isenschmid sehr überzeugend aus den Proustschen Masken- und Verschleierungsspielen herausschält, in Wirklichkeit jenes Combray der «Recherche», in dem sich das berühmte Drama des Gutenachtkusses abspielte.
Die Familiengeschichte der Mutter
Die Familiengeschichte der Weil aus einem elsässischen Dorf, die sich über vier Generationen in kultivierte Franzosen mit grossbürgerlichem Lebensstil verwandelten, gehört zu den Höhepunkten dieses Buches. Ebenso die Porträts der jüdischen Vorfahren und Grosseltern, des Grossonkels Baruch Lazard Weil, genannt Louis, und seiner Halbweltdamen und natürlich der über alles geliebten, ganz in der französischen Literatur aufgehenden Mutter, die mit ihren Söhnen gerne in Racine-Zitaten sprach – sie alle werden in verschiedensten Variationen, Übermalungen und Verkleidungen in die «Recherche» eingehen. Der seit den 1880er Jahren anschwellende, bösartig rassistische Antisemitismus wird auch diese vollständig säkularisierte Familie überraschen, ganz persönlich attackieren, und mit seinem gewalttätigen Höhepunkt in der Dreyfus-Affäre in Bedrängnis bringen. Viele Freunde Prousts – etwa die Söhne des verehrten antisemitischen Schriftstellers Alphonse Daudet – erwiesen sich als eingefleischte Antisemiten.
Im Lichte dieser Erkenntnisse unternimmt Isenschmid im dritten Teil der Studie seine Durchleuchtung des gewaltigen Romans auf alles Jüdische. Mit der Erfindung der jüdischen Hauptfigur Charles Swann kommt, so Isenschmid, die Recherche als jüdischer Roman zur Welt, und zwar «in einer Sturzgeburt». Bald wird Swann Albert Bloch als zweite jüdische Figur folgen, beide sind in einzigartiger Weise in allen Bänden der Recherche präsent. Bei ihrer Darstellung changiert Prousts Erzähler Marcel zwischen übelsten antisemitischen Klischees – Hakennase, hyänen-artig – und zärtlicher Bewunderung, ja geradezu Identifikation, eine verwirrende Ambivalenz «in einem Spiel zwischen Nähe und Ferne», die Isenschmid brillant herausarbeitet. «Als jüdisch sah sich Proust nicht. Ein Nicht-Jude wollte er allerdings auch nicht sein» – so ein Fazit des Autors, das sich für diese Gespaltenheit immer wieder aufdrängt. Sie ist im Grunde ein tragisches Zeugnis der Zerstörung, die aggressive Diskriminierung im Identitätsgefüge der Diskriminierten anrichtet.
Was ist ein «jüdischer Roman»?
Ebenso frappierend kann Isenschmid in den diversen, berühmten Salon- und Restaurantszenen bei jeder Berührung «des Jüdischen» wieder jenes «Textbeben» zeigen, jene «Schleuderbewegung», die den Erzähler immer dann erfasst, wenn er über jüdische Themen schreibt, in dem er die gewohnte Klarheit und Perfektion verliert. Proust habe sich beim Scheiben über Jüdisches freudloser und «erkennbar unkomfortabler gefühlt als bei dem über die Homosexualität», das andere Tabu-Thema der Recherche, meint Isenschmid. Das Herz des Romans ist und bleibt «die Passion zweier Juden im Antisemitismus der Salons».
Leichte Lektüre ist das alles nicht – hochinteressante dagegen immer. Denn so sehr es dem Autor anzurechnen ist, dass er seine stupende Kenntnis nicht, wie im Universum der Proust-Forschung durchaus üblich, auf tausenden von Seiten ausbreitet, sondern sich auf 200 Seiten beschränkt, so überdicht befrachtet wird damit oft sein Text. Und gerade weil Isenschmid das Rätselhafte des Jüdischen der Recherche so subtil herausarbeitet, stellt sich immer wieder die Frage: Was genau meint dieses Wort? Was ist ein «jüdischer Roman»? Geht es um einen von einem jüdischen Autor geschriebenen Roman – wie etwa im Fall von Isaac Bashevis Singer? Oder um einen Roman, der die jüdische Gesellschaft oder Geschichte betrifft – wie Thomas Manns «Joseph und seine Brüder»? Beides trifft für die «Recherche» nicht wirklich zu.
Was also ist gemeint mit dem heiklen, da historisch zu oft und zu unselig definierten Begriff des «Jüdischen»? Isenschmid beantwortet die Frage nicht. «Man darf dieses Jüdische nicht zu deutlich benennen», schreibt er einmal mit Bezug auf die Recherche, «doch vergessen wird es nie». Dies zu zeigen ist dem Autor allerdings gelungen. Und er beendet sein Buch mit einem Satz, den Proust angeblich selbst in einem Brief geschrieben hat, der aber nur mündlich vom Briefempfänger überliefert wurde: «Alle haben vergessen, dass ich jüdisch bin. Ich nicht.»
Übersehener Elefant?
Was den Elefanten anbelangt – ist er tatsächlich übersehen worden? Proust dürfte zu den am gründlichsten erforschten Autoren überhaupt gehören, jedes Jahr kommen ein paar hundert, in guten Jahren ein paar tausend Seiten Proustforschung dazu, jeder Tag seines Lebens und jede Zeile seines Lebens scheine mehrfach hin und hergewendet, Bildbände versammeln die in der Recherche erwähnten Gemälde, selbst Prousts Hauskonzerte erscheinen auf CD – so hat Isenschmid sich selbst einmal als Proustianer gefreut. Kann es also sein, dass ausgerechnet die jüdischen Wurzeln derart vernachlässigt blieben?
Doch letzlich dürfen wir wohl beide Thesen Isenschmids, jene von der «Recherche» als einem «jüdischen Roman» und jene vom übersehenen grossen Grautier in der hier postulierten Radikalität getrost den Proustianern zur Diskussion überlassen. Uns Laien genügt seine brillante, mit stupender Quellenkenntnis unterfütterte und raffiniertem literarischem Spürsinn verfolgte und obendrein oft vergnüglich zu lesende Darstellung des Jüdischen bei Marcel Proust.
Andreas Isenschmid: Der Elefant im Raum – Proust und das Jüdische. Hanser, München 2022. 237 Seiten.