Im Parlament in Tbilissi gehen Parlamentarier mit Faustschlägen aufeinander los, in den Strassen demonstrieren Zehntausende gegen ein geplantes Gesetz, die Polizei geht mit Gewalt vor und verhaftet Dutzende. Was ist los in diesem Land, das sich als europäisch empfindet und von der EU im Dezember 2023 den Status eines Beitrittskandidaten erhalten hat?
Oberflächlich betrachtet geht es um eine eher polit-technische Frage: Müssen sich Nicht-Regierungs-Organisationen, die mehr als 25 Prozent ihrer Geldmittel aus dem Ausland erhalten, registrieren lassen oder nicht? Die tonangebende Partei des Landes, «Georgischer Traum», sagt, es handle sich nur darum, Transparenz herzustellen – aber ein Grossteil der Zivilgesellschaft vertritt die Meinung, die Regierung wolle mit diesem Gesetz dem Beispiel von Putins Russland folgen, also die NGOs (die mehrheitlich die Demokratie fördern wollen und von der eigenen Regierung dafür kein Geld erhalten) zunächst an die Kandare nehmen und dann aus dem Land vertreiben. Also sei diese Regierung Moskau-treu, wolle sich beim russischen Nachbarn beliebt machen und Georgien letztlich auf Putins Linie bringen.
Mehrheit für die EU
Der Schatten des gewaltigen Nachbarn liegt schwer auf dem kleinen Land im Kaukasus (3,7 Millionen Einwohner auf einer Fläche nur wenig grösser als die Schweiz). Die gegenwärtige Regierung mit Irakli Kobachidse von der Partei «Georgischer Traum» politisiert tatsächlich seit einigen Monaten so, dass Putin sich nicht brüskiert fühlen muss, d. h., er vermeidet Äusserungen des Inhalts, dass Georgien sich sowohl der Europäischen Union als auch der Nato annähern will und schweigt sich gerne aus über das sensible Thema der an Russland verlorenen Regionen Abchasien und Süd-Ossetien. Wohl im Wissen, dass die Wirtschaft Georgiens, Sympathien oder Antipathien in Richtung Moskau hin oder her, zu einem guten Teil vom Handel mit Russland abhängig ist. Und dass Russlands Putin vielleicht nur auf eine Gelegenheit wartet, eine oder zwei Divisionen (mehr würde er nicht für eine solche «Spezial-Operation» frei machen müssen) in Richtung Tbilissi zu entsenden.
Also taktiert Kobachidse mit seinem «Georgischen Traum» vielleicht wirklich geschickt? Möglich ist es, aber die überwiegende Mehrheit der Menschen in Georgien strebt nun schon seit vielen Jahren nach Europa (80 Prozent sprachen sich bei der letzten Umfrage für den Beitritt zur EU aus), fühlt sich auch europäisch und wirkt, das erkennt jeder Besucher auf Anhieb, im Vergleich etwa zu den Nachbarländern Türkei und Aserbeidschan ausgesprochen westlich.
Väterchen Stalin
Doch wer etwas tiefer schürft, entdeckt bald – neben dieser scheinbaren Eindeutigkeit – viel Besonderes an diesem Land und seinen Bewohnern. Wer einmal seine russischen Sprachkenntnisse in Tbilissi oder Batumi oder sonst wo nutzen wollte (Georgien war ja von 1921 bis 1991 Teil der Sowjetunion), wird schon beim ersten oder zweiten Satz feststellen: Damit ist nichts zu gewinnen, die Georgierinnen und Georgier weigern sich schlicht, in dieser Sprache zu kommunizieren. Das ist die Sprache des früheren Beherrschers, das ist allenfalls «alter Kaffee», jetzt spricht man, wenn schon nicht Georgisch, dann eben Englisch. Mit dem, was war, will man nichts zu tun haben – das gilt nicht nur für den Alltag, es ist auch erkennbar, wenn man, beispielsweise, den historischen Bereich des Nationalmuseums in Tbilissi besucht.
Da müsste man doch, eigentlich, massenweise auf Dokumente über Josef Stalin stossen, denn Stalin war ja Georgier. Weit gefehlt – da gibt es nur ein paar wenige Bilder, und immer zeigen sie Stalin als militärischen Befehlshaber, als Bezwinger der deutschen Wehrmacht, nie als Polit-Diktator. Und über das, was er im riesigen Gebiet der Sowjetunion, also auch in Georgien, anrichtete, darüber wird hier diskret geschwiegen.
Auch in Stalins Geburtsort, im etwa 80 Kilometer von Tbilissi entfernten Gori, wird die mörderische Ideologie des Diktators Stalin verschwiegen. Da gibt es zwar ein (sehr sehenswertes) Stalin-Museum, unter anderem mit einem sakral wirkenden Raum mit einer Totenmaske, aber auch hier wirkt alles so, als habe das Stalin-Regime nie etwas Böses getan. Mit einer kleinen Ausnahme: Eine Aufschrift weist, winzig klein, auf ein paar Männer hin, welche, so sagt das die Guide-Dame, die Visionen Stalins missbraucht hätten. Dass es ein «Missbrauch» mit Millionen Toten war, den der Georgier verschuldet hat – keine Spur davon.
Saakaschwilis Irrtum
In Georgien wird anderseits auch nicht gerne über das gesprochen, was 2008 zum Krieg mit Russland und dem wohl endgültigen Verlust der Region Süd-Ossetien geführt hat – oder wenn man darüber spricht, dann mit dem Verweis, dass Putin seine Truppen in Richtung Süden in Bewegung gesetzt und über Süd-Ossetien hinaus, zumindest während einiger Tage, grössere Teile des georgischen Kernlandes besetzt habe. Nur: Russland war damals nicht ein Aggressor aus dem Nichts, sondern Georgiens damaliger Präsident, Micheil Saakaschwili, liess die Mini-Hauptstadt von Süd-Ossetien, Zchinwali, bombardieren, weil er meinte, die US-Amerikaner würden ihn beim Versuch der Rückeroberung des Territoriums unterstützen. Putin anderseits wartete nur darauf, dass Saakaschwili einen Fehler begehen würde – und setzte daraufhin seine schon in Bereitschaft stehenden Panzertruppen in Bewegung. Wodurch Süd-Ossetien für Georgien wohl endgültig verloren ging.
Das Fass am Überlaufen
Dass die Menschen in Georgien trotz West-Orientierung etwas anders «gestrickt» sind als die West-Europäer, lässt sich zusätzlich an etwas sehr Banalem erkennen. Es fällt den Reisenden oft als Erstes auf: In Georgien fahren auffallend viele Autos mit dem Steuer rechts statt links, obwohl das Land, wie ganz Kontinental-Europa, Rechts-Verkehr hat. Erklärt wird das dadurch, dass japanische Autokonzerne (in Japan gilt, wie etwa auch in Grossbritannien, Links-Verkehr) gerne ihre Überschuss-Ware nach Zentralasien verramschen, und Georgien ist in der Region ein zentraler Umschlagplatz. Diese unübliche und entsprechend ungewohnte Steuerung müsste eigentlich zu mehr Unfällen führen, würden wir geradlinig denkenden Westeuropäer vermuten – doch dem ist so nicht. Die Menschen in Georgien kommen mit dieser «verkehrten» Situation unglaublich gut zurecht.
Sie kamen bis vor kurzem auch mit der verkehrten politischen Situation relativ gut zurecht: eine Regierung, die Putins Russland auf keinen Fall brüskieren will; daneben eine Staatspräsidentin (Salome Surabischwili), die den Kurs der Regierung offen verurteilt – und im Hintergrund ein Milliardär (Bidsina Iwanischwili), der die wesentlichen Fäden der Politik zieht – mit unklarer Zielrichtung, wohl eher pro-russisch als pro-europäisch. All die dadurch entstehenden Widersprüche erschienen der Zivilgesellschaft irgendwie zumutbar – doch jetzt ist das Fass am Überlaufen, jetzt erkennen Zehntausende: Wenn es so weitergeht wie in den letzten Monaten, dann besteht die Gefahr, dass Georgien zu einem Vasallen des Diktators in Moskau wird. Dagegen wehren sie sich – und hoffen, dass ihr Protest nicht zu spät kommt.