Ist das Internet ein Segen oder ein Fluch? Fortschrittsgläubige Optimisten sehen in der neuen Informationstechnologie die Chance für einen aufklärerischen Quantensprung: Je mehr Menschen Zugang zu Wissen und Informationen haben, desto besser und vernünftiger wird die Welt. Inzwischen melden sich aber schwere Zweifel: Die digitale Informationsflut sei ein Teufelswerkzeug, durch das die Menschheit durch Propagandisten aller Art von Fake News überschwemmt und manipuliert werde. Damit setze sich das Gegenteil von Aufklärung durch – siehe den Wahlsieg von Trump.
Prawda heisst Wahrheit
Propaganda ist gar nichts Neues. Der Begriff, abgeleitet vom lateinischen Verb propagare (ausbreiten, verbreiten) war zunächst weniger negativ besetzt, als er es heute ist. Papst Gregor XV. gründete 1622 im Zuge der Gegenreformation die „Sacra congregatio de propaganda fide“, die „Heilige Kongregation für die Verbreitung des Glaubens“, so erfährt man von Wikipedia. Gemeint war damals die Verbreitung des einzig wahren katholischen Glaubens.
Natürlich will heute niemand, der eine Information verbreitet, ein Propagandist sein, denn dieser Begriff hat inzwischen längst einen anrüchigen Beigeschmack. Professionelle Propagandisten betonen deshalb immer mit besonderem Nachdruck, dass es ihnen um die Wahrheit gehe. Das Hauptorgan der russischen Kommunisten, denen es immer nur um die Sicherung der eigenen Macht ging, heisst denn auch seit Lenins Zeiten und noch heute „Prawda“ – Wahrheit. Auch in George Orwells Klassiker „1984“ zur totalitären Herrschaft heisst das Informationsministerium folgerichtig „Ministerium der Wahrheit“.
Propaganda im heutigen Verständnis ist gewissermassen der Oberbegriff für alle sprachlichen Varianten, die die Verbreitung von Unwahrheiten oder tendenzösen Inhalten anzeigen: Desinformation, Fake News, Halbwahrheiten, Lügen. Massenhafte Praktiken der bewussten und in vielen Fällen systematischen Verdrehungen von Fakten sind wie gesagt beileibe keine Spezialität des Internetzeitalters. Darauf verweist schon der Ausdruck „Kriegspropaganda“ – und die gibt es mindestens seit dem Altertum. In den USA blühen Phänomene wie das Talk Radio von politisch demagogischen Entertainern wie Rush Limbaugh oder der Fernsehsender „Fox News“ des Medienmoguls Murdoch nicht erst seit der globalen Ausbreitung des Internets.
Überlegene Russen im Fake-News-Geschäft?
Hochaktuell wird zurzeit insbesondere die Frage diskutiert, ob Russland und das Putin-Regime besonderes Geschick bei der Verbreitung von Propaganda und Fake News via Internet entwickelt haben – und ob sie damit vielleicht gar den Ausgang der amerikanischen Präsidentenwahl entscheidend beeinflusst haben könnten.
Masha Gessen, eine erfahrene Publizistin, äussert sich in einem Beitrag für den angesehenen „New Yorker“ überaus skeptisch zu solchen Behauptungen oder Vermutungen. Sie ist in Moskau aufgewachsen und kam erst als Teenager nach Amerika. Später hat sie sich als Korrespondentin amerikanischer Medien immer wieder in Russland aufgehalten. Sie kennt also die publizistischen Welten und Eigenheiten in beiden Ländern bestens.
Jüngsten Aussagen des Facebook-Vertreters vor dem amerikanischen Kongress, wonach zwischen 2015 und 2017 möglicherweise 126 Millionen Amerikaner auf Facebook Inhalten begegnet seien, die mit „russischen Konten assoziiert“ werden, hält Masha Gessen Argumente entgegen, die vom Facebook-Repräsentanten vor dem Kongress ebenfalls erwähnt wurden: Die Mehrheit dieser russisch liierten Inhalte seien erst nach der Präsidentschaftswahl vom November 2016 verbreitet worden.
Ausserdem machten diese Inhalte, die von russischen Konten stammen könnten, lediglich 0,004 Prozent der gesamten von Facebook publizierten Inhalte aus, betont Masha Gessen. Nach ihrer Meinung handelt es sich bei diesen vermutlich von Russland verbreiteten Beiträgen mit Bezug auf das Geschehen in Amerika inhaltlich um eine völlig widersprüchliche Kakophonie ohne klare Richtung.
Damit ist natürlich der Verdacht nicht widerlegt, dass russische Akteure sich via Internet erfolgreich in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf eingemischt haben. Die Argumente von Masha Gessen legen dem kritischen Leser nur nahe, aus vorläufig bruchstückhaften Informationen und Vermutungen nicht voreilig definitive Schlüsse zu ziehen. Selbst wenn der Verdacht einer quantitativ und qualitativ signifikanten Fake News-Berieselung aus russischen Quellen sich erhärten sollte, wird man kaum je zuverlässig wissen können, in welchem Umfang diese Propaganda das tatsächliche Wahlverhalten der amerikanischen Wähler beeinflusst hat.
Das Internet hilft beim Fakten-Check
So absolut vertrauensselig wie manche Beobachter befürchten, scheinen die Amerikaner gegenüber den in den Social Media verbreiteten Inhalten oder „News“ auch wieder nicht zu sein. Der „Economist“ zitiert eine soeben veröffentliche Studie, laut der nur 37 Prozent der amerikanischen Konsumenten den Inhalten in den Sozialen Medien trauen, den gedruckten Medien dagegen trauten doppelt so viele Amerikaner.
Welche Schlüsse kann man aus all diesen Überlegungen, Vermutungen und ungesicherten Informationen zum weitläufigen Komplex Propaganda, Fake News und Wahrheit ziehen? Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, sie wird angesichts der sich ausbreitenden Epidemie von Fake-News-Virtuosen nur dringlicher: Es liegt am mündigen Bürger, die Spreu vom Weizen zu trennen und durch skeptisches Nachfragen, Vergleichen und Prüfen der Wahrheit oder wenigstens den genaueren Fakten auf die Spur zu kommen.
Zu dieser Aufgabe gehört auch die Souveränität, bei besonders kontroversen Themen und Sachverhalten sich nicht voreilig und reflexartig für eine bestimmte Version oder ein bestimmtes Meinungslager zu entscheiden. Bei dieser Art des umsichtigen Abwägens kann das Internet mit seinen zahllosen Informationsmöglichkeiten durchaus nützliche Dienste leisten.