In den 1990er Jahren entwickelte der katholische Theologe Hans Küng sein «Projekt Weltethos». Küng war davon überzeugt, dass die meisten mit Gewalt ausgetragenen Konflikte religiöse Wurzeln haben. Aber die Religionen verbindet ein gemeinsames Anliegen, auf das sie ansprechbar sind.
Hans Küng war nicht nur ein hochgebildeter katholischer Theologe, sondern auch ein leidenschaftlicher Religionswissenschaftler. Zudem pflegte er weltweit persönliche Kontakte zu religiösen Gelehrten und Führern. Und so meinte er, dass trotz aller religiösen Gegensätze, die sich in Gewalt niederschlagen, alle Religionen eine gemeinsame Basis haben, nämlich das «Humanum». Denn so unterschiedlich die Götter auch sind, die sie verehren, so verschieden die Riten und religiösen Vorschriften auch sein mögen, so geht es doch allen Religionen um das Heil des Menschen. Die Menschen verehren ihre Götter und stellen sich in ihren Dienst, weil sie darin die Basis ihres Lebens sehen.
Die Grundsätze
Für Küng kam es also darauf an, hinter den Erscheinungsformen der Religionen das gemeinsame Wesen zu erkennen. Dann, so meinte er, liessen sich aus den erbittert geführten politischen und ethnischen Konflikten die Zündstoffe entfernen. Im Jahr 1990 erschien das Grundlagenwerk Küngs «Projekt Weltethos», das in 17 Sprachen übersetzt wurde.
Er selbst fasste die Grundprinzipien so zusammen:
- kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos
- kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen
- kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen
- kein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung
- kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nicht-Religiösen
Dieser Grundgedanke hatte eine enorme Wirkung, zumal Küng auch sehr geschickt darin war, ihn zu propagieren. So fand im Jahr 1993 ein «Parlament der Weltreligionen» statt, für das Hans Küng den Entwurf für eine «Erklärung des Weltethos» vorlegte. Es folgten eine Reihe weiterer Konferenzen, und 2001 beschäftigten sich auch die Vereinten Nationen damit. UN-Generalsekretär Kofi Annan berief eine internationale «Gruppe herausragender Persönlichkeiten» – unter ihnen auch Hans Küng – mit dem Auftrag, ein Konzept für ein neues Paradigma internationaler Beziehungen zu entwickeln. Der Bericht wurde im Deutschen unter dem Titel «Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen» veröffentlicht und verweist mehrfach auf das Projekt Weltethos. Zudem erhielt Hans Küng die Gelegenheit, das Weltethos-Programm vor der UN-Vollversammlung vorzustellen.
Aus heutiger Sicht wirkt dieses Projekt wie aus der Zeit gefallen, obwohl es in Tübingen, dem ehemaligen Wirkungsort von Hans Küng, als Weltethos-Institut und als Stiftung weitergeführt wird. Aber einige Rahmenbedingungen haben sich in einer Weise geändert, die man sich in den 1990er Jahren kaum hätte vorstellen können.
Wandel des Zeitgeistes
Dazu gehört nicht nur das Wiederaufleben des religiösen Fundamentalismus in verschiedenen Religionen, auch des Christentums – Amerika liefert eindrucksvolle Beispiele – und des Judentums, wie sich an radikalen Gruppierungen in Israel zeigt. Dieser Fundamentalismus geht zu einem Teil mit einer derartig radikalen Ablehnung der westlichen Werte einher, dass diese als eine Basis, von der aus man das «Humanum» aller Religionen erreichen kann, nicht mehr taugen. Aber auch das Denken des Westens ist verroht. Dass zum Beispiel im Zeichen der Meinungsfreiheit Exemplare des Korans öffentlich verbrannt werden oder man es für richtig hält, mit sehr grobschlächtigen Karikaturen Muslime nicht nur zu beleidigen, sondern auch zu verletzen, verträgt sich nicht mit dem Geist des Respekts, den Hans Küng als Basis eines interreligiösen und interkulturellen Dialogs selbstverständlich vorausgesetzt hat.
Unabhängig davon, dass als westlich verstandene Werte wie die Humanität heute weltweit auf expliziten Hass stossen, wurde gegenüber Hans Küng wiederholt bezweifelt, dass man aus allen Religionen ein mit anderen Glaubensüberzeugungen kompatibles Extrakt des Humanen gewinnen kann. Dieser Gedanke ist tief in der christlichen Theologie verwurzelt und durch verschiedene Epochen der philosophischen Aufklärung geprägt. Theologen haben dabei gelernt, zwischen den Symbolen des Christentums und den dahinter liegenden Wahrheiten zu unterscheiden. Diese gedankliche Operation dürfte nicht in allen Kulturen möglich sein, wobei aber Hinduismus und Buddhismus auch eine rationale, selbstkritische und in einem gewissen Sinn aufklärerische Reflexion kennen. Trotzdem muss man fragen, warum es derartig verschiedenartige Religionen gibt, wenn es doch im Grunde nur um ein und dasselbe Humanum geht.
Doch kann das heute nahezu vergessene «Projekt Weltethos» auch als Ausdruck des kulturellen und politischen Geistes der unmittelbaren Zeit nach dem Kalten Krieg betrachtet werden. Dieser Geist ist verloren gegangen – zum Schaden aller.