Bei westlichen Beobachtern des Nahostkonflikts geniesst Israel noch immer eine Grundsympathie. Diese wird allerdings durch die israelische Kriegführung in Gaza massiv erschüttert. Vielleicht eine Chance, Israel und die Aussichten auf Frieden realistischer zu sehen?
Ich war zwanzig, als Israel im Sechstagekrieg gegen eine arabische Übermacht fast im Handstreich obsiegte. Ägypten hatte als letzten von mehreren Eskalationsschritten mit einem Aufmarsch von tausend Panzern und fast hunderttausend Mann an den Grenzen Israels eine machtvolle Drohkulisse aufgebaut. Doch mit einem überraschenden Luftangriff zerschlug Israel die Luftwaffen Ägyptens und der mit diesem verbündeten Nachbarn Jordanien und Syrien. Deren Truppen waren ohne Luftunterstützung in der Folge chancenlos. Die Israelis nahmen den Sinai ein und stiessen bis zum Suezkanal vor. Zudem eroberten sie von den Jordaniern Ostjerusalem und das Westjordanland sowie von den Syrern die Golanhöhen.
Für einen mit westlichen Weltbildern aufgewachsenen Menschen war etwas anderes als begeisterte Solidarität mit Israel undenkbar. Israel war das von missgünstigen Feinden umzingelte Land, das im Orient die erste Demokratie aufbaute und mit weitherum bewundertem Pioniergeist sprichwörtlich die Wüste zum Blühen brachte. Und es war der zwar von aussen immer wieder bedrohte, aber dank eigener Stärke beschützte Zufluchtsort für die Juden, die nach Jahrhunderten der Verfolgung und versuchten Ausrottung in ihr Stammland zurückgekehrt waren. Der Sechstagekrieg war für viele meiner Generation das nahostpolitische Ur-Erlebnis.
Dieser Blick auf Israel blieb lange unhinterfragt. Palästinensische Terroranschläge wie derjenige auf die israelische Delegation bei den Olympischen Spielen 1972 in München festigten das Bild des bedrohten Volkes, das die Sympathie und Solidarität aller Wohlmeinenden verdiente. Doch mit der wachsenden Zahl der miterlebten Ereignisse, der immer breiteren Reihe der wahrgenommenen Akteure und mit wachsendem Sinn für historische Zusammenhänge wurde das Bild komplizierter. Mit dem Bau der Mauer und der völkerrechtswidrigen Aneignung und Besiedlung von Land auf der Westbank und den immer stärkeren ultrakonservativen Kräften in der israelischen Politik legten sich düstere Schatten auf das Bild Israels. Unabweisbar drängte sich das Unrecht, das den Palästinensern angetan wurde, ins Bewusstsein. Trotzdem blieb die grundlegende Sympathie zu Israel bestehen. Denn das Land hob sich noch immer mit einsamen Qualitäten von der tristen politischen Landschaft des Nahen Ostens ab: Israel war eine gefestigte Demokratie, es war ein Rechtsstaat mit unabhängiger und oft mutiger Justiz, und das Land zeichnete sich durch eine vitale Zivilgesellschaft aus.
Das ist immer noch so, auch wenn die Ultrakonservativen inzwischen durchgesetzt haben, dass Israel sich als jüdischer und nicht mehr als religiös neutraler Staat definiert – mit erheblichen Folgen für den Alltag der weltanschaulich-religiös gemischten Bevölkerung. Doch die Angriffe der Regierung Netanjahu auf die Gewaltentrennung sind vorerst abgewehrt. Und die Zivilgesellschaft hat in eben diesem Kampf ihre Bewährungsprobe bis anhin bestanden.
Der Israel-Sympathie blieb somit die Grundlage erhalten. Und mit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 bäumte sie sich nochmals mächtig auf. Auf den schändlichen Terrorakt der Hamas konnte es nur eine Antwort geben: Solidarität mit den Angegriffenen, die nun – deutlicher als je zuvor – als Teil eines geopolitischen Dramas erkennbar wurden: Russland und Iran als miteinander verbündete antiwestlich-autokratische Mächte, die in der Ukraine und im Nahen Osten gegen jeweils denjenigen Staat vorgehen, der ihnen ein konträres Projekt von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entgegenstellt.
Was nach dem ominösen 7. Oktober im Gazakrieg geschehen ist, hat nun aber die bereits geschwächte Strahlkraft Israels als Modell für den Nahen Osten zumindest vorübergehend zum Erlöschen gebracht. Gegen den klaren Willen eines Grossteils der eigenen Bevölkerung lässt die Regierung Netanjahu ihre Armee im Gazastreifen mit schockierender Rücksichtslosigkeit agieren. Das erklärte Ziel, Hamas zu «vernichten», scheint sämtliche Abwägungen zur Verhältnismässigkeit der eingesetzten militärischen Gewalt obsolet zu machen. Wie ja auch seit Langem schon im Westjordanland radikalisierte Siedler und israelisches Militär mit brutaler Herr-im-Haus-Attitüde gegen Palästinenser vorgehen.
Die Verachtung, die der palästinensischen Bevölkerung entgegenschlägt, hat genauso zur Vergiftung des Verhältnisses zwischen den Kontrahenten beigetragen wie die zahlreichen palästinensischen Terrorangriffe. Zwar gibt es auf beiden Seiten Bewegungen und Initiativen, die den Teufelskreis der Gewalt zu stoppen versuchen, aber sie sind hüben wie drüben marginalisiert. Fanatismus anzuheizen, so die bittere Lehre aus zahllosen Konfliktgeschichten, geht allemal leichter als Verständigungsprozesse in Gang zu setzen und gegen Widerstände und Rückschläge am Laufen zu halten. Ein Haus anzuzünden ist leichter als eins zu bauen.
Der Nahe Osten erlebt seit Generationen nicht die Zeit der Bauleute, sondern der Brandstifter. Das gegenwärtige Israel mit der Regierung Netanjahu folgt dieser Logik der Pyromanen, indem es seine Verteidigung mit maximalem Gewalteinsatz zu sichern versucht. Selbst wenn damit momentane Erfolge erreicht werden sollten (was keineswegs gesichert ist), wird so auf längere Sicht nur Hass und Verzweiflung geschürt und damit der Nährboden für weitere Gewalt bereitet.
Kann man unter diesen Umständen noch pro-israelisch sein? Die Kontraste zwischen der Verhandlungen fordernden Zivilgesellschaft und der von Extremisten gegängelten Regierung Israels lassen nur differenzierte Sympathien und kritische Solidarität zu. Es ist die gleiche Haltung, die auch bei den übrigen Akteuren des Nahostkonflikts angemessen ist: auf der einen Seite Hochachtung für die bewundernswerten Oppositionsbewegungen in Iran, Teilnahme am Leiden der seit dreizehn Jahren einem gnadenlosen Krieg ausgesetzten syrischen Bevölkerung, Aufmerksamkeit für das Los der einem brutalen Repressionsapparat ausgesetzten ägyptischen Reste des arabischen Frühlings – und auf der anderen Seite die illusionslose Wahrnehmung der Machthaber, die sich keinen Deut um das Wohlergehen ihrer Völker kümmern – übrigens auch nicht um das der Palästinenser –, sondern mit hemmungsloser Korruption und zynischer Pflege von Feindbildern ihre Machtpositionen zementieren.
Hat sich Israel schon völlig assimiliert an diese nahöstliche Potentaten-Unkultur? Ich persönlich glaube das nicht. Denn noch bestehen die genannten Merkmale, die Israel von seiner politischen Umwelt abheben. Meine pro-israelische Haltung besteht darin, die Gefahren eines Substanzverlusts der Demokratie, einer Erosion des Rechtsstaats und einer Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Bewegungen in diesem Land sehr genau im Auge zu behalten. Israel ist nicht etwas kategorial Anderes unter den nahöstlichen Staaten. Es gleicht diesen in seinen inneren Konflikten. Das könnte, wenn man die Lage mit vorsichtigem Optimismus betrachtet, irgendwann zu einer Grundlage für eine gewisse Entspannung und Annäherung werden.