Die meisten Texte, die wir verfassen, handschriftlich, mit der Schreibmaschine oder als E-Mail, haben eine kurze Gültigkeitsdauer. In der Regel handelt es sich um Mitteilungen, die, wenn sie vom Adressaten zur Kenntnis genommen worden sind, ihren Zweck erfüllt haben. Zuweilen halten wir ein Ereignis oder einen Tatbestand für einen längeren Zeitraum fest, so bei Vereinbarungen und Verträgen. Wir können aber auch etwas, das für uns persönlich von Bedeutung ist, schriftlich fixieren, damit wir es vergegenwärtigen können, wenn unsere Erinnerung verblasst ist.
Tagebücher, Briefe als historische Quellen
In bestimmten Fällen können solche Texte eine Bedeutung gewinnen, die über den Autor und den Zeitpunkt der Niederschrift hinausgeht und von historischem Interesse ist. Dies trifft dann zu, wenn es sich beim Verfasser um eine irgendwie herausragende Persönlichkeit handelt oder wenn das Textdokument Seltenheitswert besitzt.
So stellen beispielsweise die Tagebücher von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels eine wichtige Geschichtsquelle dar. Eine historisch bedeutsame Quelle sind aber auch die Tagebücher des Professors Victor Klemperer, eines der wenigen Zeugnisse, in denen ein Jude, der überlebte, von seinen Alltagserfahrungen unter Hitler berichtet.
Berühmte und berüchtigte Memoiren
Geschriebene Texte können natürlich auch dann von bleibender Bedeutung sein, wenn sie, wie etwa die Tagebücher von Thomas Mann oder André Gide, literarisch wertvoll sind oder ein Licht auf das Leben und Werk eines Schriftstellers werfen. Aber selbst flüchtige Mitteilungen, verfasst von Menschen, die längst vergessen sind, können noch zum Gegenstand historischer Forschung werden, so etwa die Feldpostbriefe, die im Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten von der Front nach Hause sandten.
Eine weitere wichtige Quelle stellen die Erlebnisberichte dar, welche einen bestimmten Zeitraum oder ein bestimmtes Geschehen betreffen. Dazu gehören Autobiografien, die freilich häufig subjektiv eingefärbt sind oder gar reinen Rechtfertigungscharakter besitzen. Zu Recht berühmt sind die Memoiren von Stefan Zweig oder Carl Zuckmayer; zu Recht berüchtigt sind die Memoiren von Hitlers Steigbügelhalter Franz von Papen oder seinem Generalfeldmarschall Keitel.
Im Viehwagen von Modena nach Auschwitz
Eine weitere wichtige Art von Zeugnissen schliesslich, die ein an Katastrophen und Tragödien überreiches 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, sind die Aufzeichnungen von Insassen nationalsozialistischer Konzentrationslager, welche den Genozid überlebten. In den meisten dieser Fälle war es erklärte Absicht der Verfasser, von dem Schrecklichen, das sie erlebt und überlebt hatten, Zeugnis abzulegen und damit der kollektiven Erinnerung an das Unrecht, das geschehen war, Dauer zu verschaffen. Manche Verfasser solcher Berichte versprachen sich auch, eine solche Niederschrift würde ihnen bei der Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen behilflich sein – eine Hoffnung, die nicht selten trog.
Zu den eindrücklichsten Zeugnissen dieser Art, die wir besitzen, gehört der Bericht des italienischen Juden Primo Levi. Das Buch erschien erstmals 1947 in italienischer Sprache und liegt in deutscher Übersetzung unter dem Titel Ist das ein Mensch? vor. Primo Levi war ein Mann von 24 Jahren, der eben sein Chemiestudium „summa cum laude“ abgeschlossen hatte, als er im Dezember 1943 von der „faschistischen Miliz“ verhaftet wurde.
Er hatte gemeinsam mit andern jungen Leuten, die weder über Erfahrung noch über Mittel verfügten, eine Partisanengruppe aufbauen wollen. Als „italienischer Staatsbürger jüdischer Rasse“ wird er in ein Lager bei Modena überstellt und von dort zusammen mit 650 Schicksalsgefährten, Männern, Frauen und Kindern, in zwölf Viehwagen nach Auschwitz deportiert.
Unterkühlte Sprache
Nach langer, qualvoller Fahrt trifft man nachts am Bestimmungsort ein. Auf der Bahnrampe wird man dem unterworfen, was unter dem Begriff der „Selektion“ in die schauerliche Geschichte von Hitlers Untaten eingegangen ist. Der Berichterstatter Primo Levi, in der knappen, unterkühlten Sprache eines Diagnostikers, die ihm eigen ist, schreibt: „Abseits standen breitbeinig und teilnahmslos ein Dutzend SS-Leute.
Aber dann drängten sie sich zwischen uns und begannen mit leiser Stimme und steinernen Gesichtern, uns nacheinander in schlechtem Italienisch auszufragen. Nicht alle, nur einige wenige. ‚Wie alt?’ ‚Gesund oder krank?’ Und sie wiesen je nach der Antwort in zwei verschiedene Richtungen.“ „Von den fünfundvierzig Menschen in meinem Waggon“, schreibt Levi, „haben nur vier ihr Zuhause wieder gesehen.“
Fronarbeit in den Buna-Werken
Man sträubt sich, die alltägliche Wendung zu gebrauchen; aber Levi hat Glück. Der Häftling mit der am Unterarm eintätowierten Nummer 174517 kommt als Zwangsarbeiter in die Buna-Werke von Auschwitz-Monowitz, in der synthetischer Kautschuk hergestellt werden soll. Er existiert dort, mehr als dass er lebt, während elf Monaten. Er verrichtet schlimmste Fronarbeiten um ihrer selbst willen: „Nie kam auch nur ein einziges Kilogramm synthetisches Gummi“, schreibt er, „aus der Fabrik von Buna, um die sich die Deutschen vier Jahre lang mühten und in der wir, unzählbar, litten und starben.“
Es sind Zufälle, welche die winzige Chance von Primo Levis Überleben möglich machen: Er wird als Chemiker in einem Labor zu etwas leichterer Arbeit abkommandiert, oder er erkrankt zur rechten Zeit, um nicht den Todesmarsch aus dem Lager antreten zu müssen. Im Januar 1945 werden die Lagerinsassen durch die Sowjet-Armee befreit. Viele der Häftlinge sterben noch nach ihrer Befreiung.
Abgestumpftes Empfinden, ausgelöschte Individualität
Die Maler des Mittelalters haben sich die Höllenqualen der sündhaften Menschen mit einer krankhaft übersteigerten Phantasie ausgemalt. Im Tötungsprozess der Moderne wird die Frage nach der Schuld gar nicht erst gestellt. Die Betroffenen geraten – sie wissen nicht warum und zu welchem Zweck - hinein in einen mechanisierten Vernichtungsprozess, der den Geist korrumpiert, das Empfinden abstumpft und die Individualität auslöscht. Alles trägt dazu bei, den Zerfall der Menschen unaufhaltsam voranzutreiben: die tägliche Schwerarbeit, der andauernde Hunger, die miserablen hygienischen Bedingungen, die seuchenartig auftretenden Krankheiten, die Prügel der Wächter.
Levi beschreibt diesen gleichförmigen, öden, zermürbenden Alltag emotionslos, ohne Selbstmitleid, ohne Hass: „Ich schiebe Waggons“, schreibt er, „ich arbeite mit der Schaufel, ich ermatte im Regen, ich zittere im Wind. Schon ist mein eigener Körper nicht mehr mein: der Bauch ist gedunsen, die Glieder sind verdorrt, das Gesicht ist am Morgen verschwollen und am Abend ausgehöhlt. Einige von uns haben eine gelbe Haut, andere eine graue, sehen wir uns einmal drei oder vier Tage nicht, erkennen wir uns kaum wieder.“
Und vom Schlimmsten, von Zeit zu Zeit angesetzten „Selektionen“, schreibt er: „Es ist schwer, der Selektion zu entkommen; denn die Deutschen betreiben diese Dinge mit grossem Ernst und unerhörter Genauigkeit.“
Der Prozess der Verrohung
Primo Levi erlebt seine Einlieferung ins Arbeitslager als Fall in die Tiefe. „In einem einzigen Augenblick und mit fast prophetischer Schau“, schreibt er, „enthüllt sich uns die Wahrheit: Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht; ein noch erbärmlicheres Menschendasein gibt es nicht, ist nicht mehr denkbar.“ Aber es ist nicht nur das unbegreifliche Verdikt der Inhaftierung, das den Menschen auf seine tierische Natur zurückwirft. Es ist auch das Leben im Lager selbst, der alltägliche Kampf um die Selbsterhaltung, der alle Beteiligten, gleichviel ob sie als Juden, Zigeuner, Politiker oder Kriminelle eingeliefert wurden, korrumpiert.
Wer überleben will, muss mit allen denkbaren Mitteln, mit Lug und Trug, durch Hinterlist und Verstellung, versuchen, sich gegenüber dem Mitgefangenen Vorteile zu verschaffen. Wem dies nicht gelingt, der endet, wie der Lagerjargon dies nennt, als „Muselmann“: Er ist tot, noch bevor er stirbt. Dass dieser Prozess der Verrohung auch die Vorgesetzten, die Kapos, die Blockältesten, die SS-Schergen erfasst, falls sie noch einen Rest von menschlicher Empfindung bewahrt haben, versteht sich von selbst.
Kein menschliches Erleben ohne Sinn?
Gewiss gibt es auch in diesem Dahinvegetieren der Todgeweihten seltene Augenblicke eines prekären Glücks: ein Traum, der in die Kindheit zurückführt, eine rasch verklingende Hoffnung. Zuweilen wird in einem Blick, in einem kurzen Gespräch ein Gefühl der Solidarität mit den Mitgefangenen sichtbar, und es sind solche Augenblicke, die Primo Levi meisterhaft festzuhalten weiss.
In solchen Momenten verbindet sich die Hoffnung, man könnte vielleicht doch überleben mit dem Willen, man müsse überleben, um Bericht zu erstatten. Das Opfer wird zum Chronisten; es wendet sich, da keine Macht ihm hilft, auch nicht die göttliche, die unglaubwürdig geworden ist, in letzter Instanz an die Geschichte, die sein Zeugnis festhält. Primo Levi stellt sich die Frage, ob er diese Chronistenrolle übernehmen soll. Und er erwidert: „Auf diese Frage möchte ich mit Ja antworten. Denn ich bin überzeugt, dass kein menschliches Erleben ohne Sinn ist und nicht eine Analyse verdient, ja, dass man sogar dieser besonderen Welt, von der ich berichte, Grundlegendes abgewinnen kann, mag es auch nicht immer positiv sein.“
Brief an den deutschen Übersetzer
Der deutschen Fassung von Primo Levis Buch wird ein Brief des Schriftstellers an den deutschen Übersetzer vorangestellt. Darin stehen die Worte: „Vielleicht haben Sie gemerkt, dass für mich das Lager und vom Lager geschrieben zu haben ein bedeutendes Erlebnis gewesen ist, das mich zutiefst verändert, mir Reife und ein Lebensziel gegeben hat. Mag es Anmassung sein: aber jetzt kann ich, Nummer 174517, durch Sie zu den Deutschen sprechen, kann sie an das erinnern, was sie getan haben, und ihnen sagen: ‚Ich bin am Leben, und möchte euch verstehen, um euch beurteilen zu können.’“
Primo Levi starb an 1987 an den Folgen eines Sturzes in den Treppenschacht seines Wohnhauses. Freunde, die ihn gut kannten, glauben, dass er sich das Leben nahm. Auf seinem Grabstein steht neben Namen und Lebensdaten eine Zahl: 174517.
"Nero triumphiert vergeblich"
Man hat zuweilen ein anderes Menschheitsverbrechen unserer abendländischen Zivilisation, die Sklaverei, mit der Judenverfolgung der Nazis verglichen. Millionen von schwarzen Afrikanern wurden zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert von den europäischen Kolonialmächten über den Atlantik geschifft und auf den Plantagen als Zwangsarbeiter eingesetzt, und Millionen kamen dabei ums Leben. Allerdings lag der Sklavenwirtschaft keine rassistische Ideologie zugrunde, die mit dem Ziel einer „Endlösung“ systematisch umgesetzt worden wäre.
Auch gab es in den die Sklaverei betreibenden Ländern immer auch kritische Chronisten: Las Casas in Spanien, die Theoretiker der Revolution in Frankreich, Puritaner, Methodisten und Quäker in England und den USA. Solche Chronisten verhalfen den unglückseligen Opfern zu ihrem Recht, indem sie die Erinnerung an sie wach hielten. Wie formuliert es doch Chateaubriand: „Nero triumphiert vergeblich; denn schon hat das Imperium einen Tacitus geboren.“