Opern, in denen es darum geht, wie Künstler sich mit der Gesellschaft arrangieren oder mit ihr in Konflikt geraten, sind nicht so selten. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Paul Hindemiths «Mathis der Maler» von 1938.
In der Zeit nach der französischen Revolution tritt der unangepasste, romantische Künstler auf die Bühne, der sich den Erwartungen jeglicher Art von Dienstherren, ob kirchlicher oder weltlicher Provenienz, widersetzt. Er bockt und rebelliert gegen Konventionen, Vorgaben und Unterordnungen und tobt sich im Rausch selbstbestimmter Schaffenskraft aus. Wir kennen solche Figuren aus Berlioz’ «Benvenuto Cellini» (1838), aber auch aus Umberto Giordanos «André Chénier» (1896).
Andererseits entsteht mit dem wachsenden modernen Selbstbewusstsein des Künstlers aber auch eine Sensibilität für eigene Krisenanfälligkeit. Künstler geraten ins Stocken und ins Zweifeln. Die Zuversicht, der eigenen Aufgabe gewachsen zu sein, kann schwinden. Auch dafür gibt es in der Opernwelt geradezu Paradebeispiele. Hier seien zwei aus dem 20. Jahrhundert genannt: Pfitzners «Palestrina» (1917) ist das eine, Hindemiths «Mathis der Maler» (1938) das prominente andere Beispiel über die Selbstzweifel eines modernen Künstlers, allerdings auch hier wie im Fall des Musikers Palestrina exemplifiziert an einem bildenden Künstler des 16. Jahrhunderts.
Wer war Matthias Grünewald?
Selten wurde um die Biographie eines Künstlers über Jahrhunderte so gerätselt, gestritten und gerungen wie um die dieses Matthias Grünewald. War er dieser Maler und Grafiker Mathis Gothart-Nithart, der etwa um 1480 in Würzburg geboren und 1530 in Halle gestorben sein soll, oder war dieser Matthias Grün oder Grünewald doch eher ein genialer Zeitgenosse dieses Nithart oder Neithardt, dem die Nachwelt neben einigen wenigen anderen ihm zugeschriebenen Malereien religiöser Kunst eines der grössten Meisterwerke der Renaissancekunst überhaupt verdankt, das wir unter der Bezeichnung «Isenheimer Altar» kennen? Die Fachleute haben alles an Quellen ausgegraben und ausgewertet, was sich in städtischen Archiven, in Kloster- und Domaufzeichnungen und in bischöflichen Residenzen seit dem Spätmittelalter finden liess. Zur zweifelsfreien und eindeutigen Identifizierung der Person des Künstlers hat dies alles bis zum heutigen Tag nicht gereicht.
Über lange Zeit hielt man den Altar sogar für ein Werk Albrecht Dürers. Die Dürer-Legende zerfiel, als 1844 Jakob Burckhardt die Altarbilder als ein Werk Grünewalds beschrieb. Diesbezüglich hat allerdings heute niemand mehr Zweifel: Wer immer dieser Grünewald gewesen sein mag, beim «Isenheimer Altar» handelt es sich um etwas vom Allerwichtigsten, was an religiöser Kunst aus dem deutsch-elsässischen Raum erhalten geblieben ist.
Heute bewundern wir das vermutlich zwischen 1512 und 1516 geschaffene Werk in Colmar im Musée d’Unterlinden. Ursprünglich stand es in der Stiftskirche des Antoniterklosters in Issenheim (deutsch nannte sich der Ort Isenheim) im Elsass. Die Antoniter waren ein in der Nachfolge der Kreuzzüge entstandener Hospitalorden, der bis zur französischen Revolution in vielen europäischen Ländern sich vor allem um die Krankenpflege kümmerte. Der Name geht auf den Einsiedler Antonius aus dem 3. Jahrhundert zurück, der in der Wüste in Mittelägypten als Eremit und später als Abt in Alexandria tätig gewesen sein soll. Später wurden seine Anhänger von Konstantinopel aus auch im westlichen Europa als Mönche tätig. Sein Name erhielt volkstümliche Popularität unter dem Begriff «Sautoni», weil er einerseits gern mit einem kleinen Schwein zu seinen Füssen dargestellt wurde, andererseits auch als jener Heilige, der als Eremit den Versuchungen von Dämonen in der Wüste zu widerstehen hatte.
Auf diese letztere Tradition lassen sich vor allem die Darstellungen auf dem Isenheimer Altar zurückführen. Dabei handelt es sich um einen sogenannten «Wandelaltar», das heisst: dieser präsentierte sich den Gläubigen und den Leidenden und Kranken in der Hospitalkirche je nach Festereignis im Kirchenkalender in unterschiedlicher Form und «Einsehbarkeit». In Fasten-, Passions- und Wartezeiten verschlossen und dunkel, zu Hochfesten wie Weihnachten und Ostern strahlend und leuchtend mit Engelskonzert oder dem von feurigen Sonnenstrahlen umleuchteten Auferstandenen. Es ist grandios, was der Maler da an Farbwundern auf ein paar bewegliche Altartafeln zu bannen vermochte.
Hindemiths Oper «Mathis der Maler»
Als Paul Hindemith um 1933 beschloss, das Leben und Wirken dieses Künstlers zum Thema einer neuen Oper zu machen, hatte er zwar Kontakte mit verschiedenen Schriftstellern seiner Zeit aufgenommen, doch im Entstehungsprozess beschloss er schliesslich, das Libretto für die Oper selbst zu schreiben. Er begann die Komposition mit orchestralen Zwischenspielen, die er bereits 1934 zu einer Symphonie mit dem Titel «Mathis der Maler» formte und für die er drei Szenen des Isenheimer Altars verwendete: das Engelkonzert, die Grablegung Christi und die Versuchung des heiligen Antonius.
Der damalige Leiter der Berliner Philharmoniker Wilhelm Furtwängler führte das Werk schon im März dieses Jahres mit grossem Erfolg auf. Im November 1934 kam es zum offenen Bruch zwischen den im Vorjahr zur Macht gekommenen Nationalsozialisten aufgrund von Furtwänglers Artikel «Der Fall Hindemith», in dem dieser sich für die Musik des von den Nazis verfemten Komponisten stark machte. Furtwängler wurde gezwungen, seine Funktionen als Chef der Staatsoper, als Orchesterleiter und als stellvertretender Vorsitzender der neugegründeten Reichsmusikkammer zur Verfügung zu stellen. Hindemith begann zwar, sieben Bilder der geplanten auszuarbeiten. An eine Aufführung im deutschen Reich war natürlich nicht mehr zu denken. Die Oper wurde 1938 definitiv für deutsches Gebiet verboten. Hindemith ging ins Exil. Die Uraufführung von Hindemiths neuem Werk fand am 28. Mai 1938 im damaligen Stadttheater, dem heutigen Opernhaus Zürich statt. Sie wurde in den ersten Nachkriegsjahren auf vielen Bühnen der Bundesrepublik und der ganzen Welt nachgespielt.
Zeitbilder von Reformation und Bauernkrieg
Es gelingt Hindemith hervorragend, die politischen und ideologischen Turbulenzen der Zeit in starken Bildern und in einer hochexpressiven Musik einzufangen. Nicht minder eindrücklich ist die Figur des Künstlers Mathis gestaltet, der ob der Kriegsnot der Zeit, der Sorgen der Bauern ums Überleben, der Unnachgiebigkeit der aufeinanderprallenden Interessen von Katholiken und Lutheranern in die grössten Zweifel und Unsicherheiten gerät. Was ist die Aufgabe eines Künstlers in Zeiten, in denen Menschen hingeschlachtet und Bücher mit angeblich ketzerischen Botschaften abweichender Meinungen verbrannt werden? Ist da die stille Arbeit an einem Altarbild in der geschützten Werkstatt eines Klosters überhaupt noch zu rechtfertigen?
Hindemith hat gekonnt gespielt mit Gedanken der inneren Emigration und des Rückzugs in den Interessensbereich eines Künstlers, dessen Hauptaufgabe ja nicht das politische Bekenntnis und der heldenhafte Aktivismus sein kann, sondern vielleicht doch eher der Rückzug in die Kontemplation und in den selbstverordneten Rückzug und Abschied. Es spielen auch zwei Frauen in der Oper eine wichtige Rolle. Regine, die Tochter des Anführers der aufständischen Bauern, und Ursula, die Tochter des reichen Mainzer Lutheraners Riedinger, die beide im affektiven Haushalt des Malers Mathis eine Schlüsselstelle einnehmen. Mathis wird am Ende der Oper sich nicht unter den Schutzmantel des Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg, flüchten. Er wählt die Freiheit, ordnet und vermacht seine wenigen restlichen Habseligkeiten und verabschiedet sich von der Welt in die einsamen, nie gänzlich auslotbaren Innenreiche einer künstlerischen Existenz.
Die nächtliche Vision
Das 6. Bild der Oper ist das magischste. Hier vermischt sich bei den Protagonisten Realität mit Traum und Vision. Wir hören hier hinein in eine Aufnahme, die der bekannteste Mathis-Darsteller der Nachkriegszeit, der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, zusammen mit dem Tenor Donald Grobe als Albrecht von Brandenburg im Jahr 1961 realisiert hat. Am Dirigentenpult des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin steht Leopold Ludwig.
Im gewählten Ausschnitt geht es um das Bild des Altars «Die Versuchungen des Heiligen Antonius». Mathis hadert mit der Frage des Lebenssinns für einen Künstler. Vor seinem geistigen Auge erscheinen Menschen, die sein Dasein bisher geprägt haben. Wollten sie sein Leben in die falsche Richtung leiten? Auf einmal glaubt er, dieser von bösen Geistern der Versuchung geplagte Antonius in der Wüste zu sein. Er sieht Paulus, den Eremiten aus Theben vor sich, der die Züge seines Förderers und Erzbischofs Albrecht trägt und ihn ermuntert, seiner künstlerischen Bestimmung und nicht den Forderungen der Zeit nachzuleben.
Was du gesucht,
Gelitten, deinem Wirken gebe es den Segen
Der Unsterblichkeit. Geh hin und bilde.
So lautet sein Ratschlag. Am Schluss dieser starken Szene stehen die gemeinsam vom Künstler Mathis und vom Machtmenschen Albrecht intonierten Sätze:
Dem Kreis, der uns geboren hat, können wir
Nicht entrinnen, auf allen Wegen
Schreiten wir stets in ihn hinein. Über uns zeigt sich
Ein weiterer Kreis: die Kraft, die uns aufrecht
Erhält. Was wir auch beginnen: sollen wir uns echt
Bewähren, muss unser Tun nach beiden Mitten weisen.
Lasst uns dem Boden danken. Lasst uns den Himmel preisen.
Alleluia!
Starke Sätze und Töne des von den Umständen und von den Übeln der Hitlerzeit arg bedrängten Künstlers Hindemith.